Winterkinder - kein russisches Märchen

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Die Erzählung „Winterkinder“ von Owen Matthews erschien im Jahr 2014 im Graf-Verlag München. Die Originalausgabe erschien im Jahr 2008 unter dem Titel „Stalin`s Children. Three Generations of Love and War“ bei Bloomsbury London und wurde von Vanadis Buhr ins Deutsche übersetzt.
Matthews erzählt die Geschichte seiner Familie. Er schreibt von drei Generationen die durch den Kommunismus immer wieder schwere Entbehrungen auf sich nehmen mussten und trotz des Untergangs des Regimes ihr Leben lang dadurch geprägt sind. Neben dem Autor selbst lernen wir seine Eltern Mila und Mervyn kennen. Daneben Milas Schwester Lenina mit ihrer Familie aber auch die Großeltern von Matthews, Boris und Marta Bibikow. Die zahlreichen Freunde und Gegenspieler, die die drei Generationen durch ihre Zeit begleiten komplettieren das Bild. „Winterkinder“ ist ein Buch über den Kommunismus, erzählt aus der Perspektive derer, die mal mehr, mal weniger schuldig zu Staatsfeinden wurden.
Die Geschichte beginnt mit der Verhaftung von Boris Bibikow, dem Großvater des Autors, der eine Frau und zwei kleine Mädchen zurücklassen musste. Sie führt den Leser weiter über die Gulag-Inhaftierung von Marta Bibikowa und das Leben ihrer Kinder im Heim. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Kampf zu kämpfen. Boris wird zum Tode verurteilt, Marta verrichtet viele Jahre Zwangsarbeit im Gulag und die Mädchen kämpfen sich langsam jede für sich zurück ins Leben. Trotz dieser widrigen Umstände finden sich die drei später wieder aber die Beziehung der Kinder zu ihrer Mutter bleibt bis zum Ende ohne wirkliche Verbundenheit und Liebe. Mila, die sich trotz langer Krankheit und einer missgebildeten Hüfte bis in die Welt der Universität hochgearbeitet hat und ihre intellektuelle Arbeit liebt, verfällt eines Tages dem englischen Diplomaten Mervyn Matthews, der fasziniert ist von Russland, diesem Land, dass so gar nichts mit seiner Heimat zu tun hat. Doch diese Faszination wird ihm zum Verhängnis als er sich mit einem KGB-Agenten anfreundet und mehrmals die Anwerbungsbemühungen von ihm ablehnt. Damit wird das Schicksal von Mila und Mervyn besiegelt. Sie erhalten keine Heiratserlaubnis und Mervyn wird des Landes verwiesen. Es folgt ein sechs Jahre andauernder Kampf gegen Windmühlen, den die beiden schließlich gewinnen sollen. Am Ende gründen sie eine Familie und bauen sich in England ein neues Leben auf. All diese Geschichten sind verwoben mit den Erfahrungen des Autors, der selbst viele Reisen nach Russland unternimmt und als Journalist auch in andere Krisenregionen reist. Auch er erlebt den Krieg und die Liebe, wie die Generationen vor ihm, nur auf andere Weise.
Owen Matthews schreibt meist verständlich und nimmt den Leser mit in seine Welt, in sein Russland. Die Handlung ist schlüssig und bleibt trotz der vielen Charaktere nachvollziehbar und verständlich. Politische Verwicklungen macht er transparent, so dass man auch mit wenig politischem Wissen über die Regierungsgeschehnisse in England und Russland gut folgen kann.
Bereits mein erster Eindruck der Leseprobe war gut. Ich hatte mir sehr gewünscht „Winterkinder“ komplett lesen zu können. Besonders fasziniert war ich davon, dass der Autor nicht lediglich die Geschichte seiner Familie wiedergibt und sich mit humorvollen Anekdoten begnügt. Vielmehr wirft er auch durchaus kritische Fragen auf, z.B. nach der Schuld seines Großvaters und dem Bösen im Menschen. Er fragt ob menschenverachtendes Handeln durch dahinterstehende Überzeugungen zu rechtfertigen ist und geht dabei auf poetische Weise mit der menschlichen Gesellschaft ins Gericht „Doch der Grat zwischen Gut und Böse verläuft mitten durch das Herz eines jeden Menschen“.
Wer bereit ist, sich auf die Schattenseiten der russischen Geschichte einzulassen und sich nicht scheut von menschlichen Schicksalen berührt zu werden, der sollte dem Buch „Winterkinder“ eine ernsthafte Chance geben. Mich zumindest hat das Buch überzeugt.