Zwischen Angst, Aufregung und einer besondern Vater-Sohn-Beziehung

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herrfabel Avatar

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"Es war der 25.März 1996, es war Frühling, und mein Leben sollte von da an ein anderes sein. Es sollte keinen unbeschwerten Frühling mehr für mich geben, kein Vogelgezwitscher ohne diesen Satz in meinem Kopf, ohne meinen ersten Gedanken an die Lateinarbeit, die ich hätte schreiben sollen und die ich [...] verpassen würde."

Was geht in einem Kind vor, wenn es aufwacht und seine Mutter ihm erklärt, dass sein Vater entführt wurde und sie nun für eine gewisse Zeit ein "Abenteuer" bestehen müssen? Genau darum dreht es sich in dem Buch "Wir sind dann wohl die Angehörigen" von Johann Scheerer. Mit diesem Buch erzählt er seine Erlebnisse während der Entführung von Jan Philipp Reemtsma im März 1996. Es geht um Verlustangst, um das Herausreißen aus der Normalität und die polizeilichen Ermittlungen aus Sicht eines 13 Jährigen. "Wenn alle Forderungen erfüllt werden, wird Herr Reemtsma 48 Stunden nach Erhalt des Lösegelds von uns unverletzt freigelassen." heißt es. Doch vielleicht ist das alles auch nur ein Spiel, dass die Entführer hier spielen und sie werden ihn gar nicht frei lassen?! Vielleicht ist er ja auch schon tot. Jedenfalls muss Johann die angekündigte Lateinarbeit nicht schreiben, denn an Schule wäre momentan nicht mehr zu denken. Es ist ja auch nur eine kurze 'Auszeit', doch aus den ursprünglichen 48 Stunden, sollten ganze 33 Tage werden. Vielleicht liegt es auch einfach an der desaströsen Arbeit der Polizei, vielleicht ist es aber auch seitens der Entführer so provoziert. Und so lernen wir die Geschichte Johanns kennen, der sich zwischen dem polizeilichen Wust aus Ermittlungen, Warten und Angehörigenbetreuung wiederfindet, abgeschirmt von der Normalität.

"Ich hatte Angst vor einem weiteren Schritt ins Unbekannte, ins Unberechenbare. Ich sehnte mich nach der Normalität, die mir genommen worden war"

Wer hier nun ein sehr detailliertes, klassisches und gewaltiges Entführungs-/Kriminal-/Alles-ist-so-furchtbar-Buch erwartet, wäre mit diesem Buch eher falsch bedient. Es ist nämlich die Geschichte aus der Sicht eines Jungen, der die damaligen Vorgänge während der Entführung seines Vaters schildert. Damit ist es auch nicht so ein detailliertes Abbild, wie es Reemtsma selbst in seinem Buch beschreibt. Es ist diese Mischung aus kurzer Freude über die verpasste Arbeit, die Besuche im Musikladen und die Betreuung seitens der Polizei, die Angst, dass er seinen Vater vielleicht nicht mehr wiedersehen wird, die zu überbrückende Langeweile und das Warten auf einen neuen Anruf der Entführer... Und stets schwingt eine gewisse kindliche Distanziertheit und Unverständnis mit. Es ist nicht nur ein Bericht über eine Entführung, seitens der Familie selbst, es ist viel mehr und gerade das hat es für mich zu einer sehr interessanten Geschichte gemacht. Der einzige Nachteil: Ich habe dieses Buch innerhalb eines Sonntags komplett durchgelesen und war dann schon irgendwie enttäuscht, dass es bereits vorbei war.