Drei Schwestern - so alt wie das Jahrhundert

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Die schwesterlichen Gefühle von Katty, Paula und Gertrud sind mit einer Prise Eifersucht und Besserwisserei gewürzt. Die drei betagten Schwestern sind die letzten von insgesamt elf Geschwistern, die noch leben. Gertrud, die Älteste, wird zu ihrem einhundertsten Geburtstag in drei verschiedenen Jahrhunderten gelebt haben. Paula, nur wenig jünger und fast blind, verbreitet stets gute Laune. Katty, die Jüngste, fühlt sich wie 60 und wird auf ihrem Hof Gertruds hundertsten Geburtstag organisieren. Dem verminten Gelände der Geschwisterbeziehungen steht eine besondere Herausforderung bevor. Die beiden jüngeren Schwestern wollen Gertrud überzeugen, nach einem Leben als Alleinstehende im Alter nun besser zu Katty zu ziehen. Für alle drei ist das bevorstehende Gespräch heikel; denn in ihrer Jugend hatte Gertrud an Katty Mutterstelle vertreten. Nun fühlt Gertrud sich manches Mal selbst wie ein Kind behandelt. Katty wiederum wirkt viel zu lebenslustig, um sie sich mit ihrer lehrerhaften Schwester unter einem Dach vorzustellen.

Katty Frankens Eltern galten vor dem Ersten Weltkrieg als arme Bauern. Ihre Töchter konnten keine Mitgift erwarten und auch sonst keine Ansprüche an das Schicksal stellen. Mit dreizehn Jahren wird Katty als Kindermädchen zu Hegmanns auf den Tellemanns-Hof geschickt, um die Bäuerin zu unterstützen. Zehn Jahre später wird sie wieder zu Hilfe geholt, um den mutterlosen Theodor aufzuziehen und den Hof von 108 Morgen mit seinen Knechten und Mägden zu verwalten. Heinrich Hegmann interessiert sich stärker für die Politik des Bauernverbands als für die Landwirtschaft. Was Katty - völlig ohne landwirtschaftliche Ausbildung - in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg für die Hegmanns leistet, kann Heinrich mit Geld nicht bezahlen. Doch auch wenn der kleine Theodor seine Katty am liebsten heiraten würde, wird sie ihr Leben lang nur Angestellte auf dem Hof bleiben. Selbst wenn "Vatti" Hegmann seine Verwalterin gern geheiratet hätte, in seinen Kreisen wäre Katty nicht standesgemäß gewesen. Heute leben Theodor und Vatti längst nicht mehr; Katty hat den Hof der Hegmanns geerbt. Rückblenden in markante Epochen deutscher Geschichte erschließen, warum Gertrud sich so schwer entscheiden kann, zu Katty zu ziehen. Schon 1915 und 1945 gab es schicksalhafte Begegnungen zwischen den Hegmanns und den Frankens. Franz Hegmann, Heinrichs jüngerer Bruder, verliebte sich zur Zeit des Ersten Weltkriegs in Gertrud. Eine Ehe ist ein Geschäft, bei dem es zu allerletzt um Gefühle geht, müssen Franz und Getrud auf die harte Tour lernen. Heinrich hatte bereits als Jugendlicher den schwachen Vater als Hofinhaber entmachtet und entscheidet als Familienvorstand über die Zukunft seines finanziell von ihm abhängigen Bruders. Franz lässt sein Leben im Ersten Weltkrieg, was Gertrud ihr Leben lang Heinrich anlasten wird. Ausgerechnet Heinrich Hegmann und seinem prächtigen Hof widmet Gertruds Schwester Katty ihr Leben.

Anne Gesthuysens vordergründig unterhaltsame Familiengeschichte hat reale Vorbilder; den Tellemanns-Hof und die drei Großtanten gab es wirklich. Mit dem Schicksal dreier Frauen, deren Gedanken um für sie unerreichbare Männer kreisen, zeichnet die Autorin zugleich ein treffendes Sittengemälde der bigotten Adenauer-Ära. Homosexualität war zu der Zeit noch ein Straftatbestand, und an die nicht immer faire Suche nach einem Schuldigen in einem Scheidungsverfahren werden viele Leserinnen sich aus der eigenen Familie erinnern. Auch die Kabbeleien zwischen Dorfbewohnern, deren Ursachen weit in die Nazizeit zurückreichen, haben einen hohen Wiedererkennungswert. Die Geschichte der Frankens und der Hegmanns zeigt sich nicht zuletzt als fein beobachtetes Psychogramm einer Generation, aus der zwei der Schwestern sich in extrem konservativen Zeiten bis zum Abschluss des Gymnasiums und einer Lehrerausbildung durchbeißen konnten. Die Schicksalsschläge prasseln etwas zu kräftig auf die drei Frauen herein und der Alltag der drei Hochbetagten wird reichlich blauäugig dargestellt. Doch auch Männer haben in diesem gelungenen Portrait der Nachkriegsjahre ihr Päckchen zu tragen, besonders wenn sie von konservativ geprägten Geschlechtsgenossen in ein Parlament gewählt werden wollen. Insgesamt ist Anne Gesthuysen ein klug beobachtetes Buch über weibliche Lebensentwürfe unter der Fuchtel katholisch geprägter Politik gelungen, das die Frage aufwirft, welchen Anteil Kompromisse und Zufälle am persönlichen Glück haben.