Gegen das vererbte Schweigen

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jollybooktime Avatar

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"Warum verklärt der drohende Tod die Dinge so stark, fragt niemand danach, was bisher geschah, darf nicht mehr logisch gedacht werden? Ich habe dafür, die Tochter meiner Mutter zu sein, einen hohen Preis gezahlt. Nicht ich schulde Mama was, sondern sie mir." (S. 130)

Valerie ist eine alleinerziehende, (über)besorgte Mutter eines Teenagers und Tochter einer damals ebenfalls Alleinerziehenden. Zwischen Valerie und ihrer Mutter Christina ächzt es gewaltig. Sowohl Vorwürfe als auch Unausgesprochenes dominieren ihre schwierige Beziehung. Als Christina schwer erkrankt und Valeries Sohn Tobi sich für ein Auslandsjahr entscheidet, steht Valerie plötzlich zwischen ihren beiden Rollen.

Mit "Wir sitzen im Dickicht und weinen" ist Felicitas Prokopetz eine Familiengeschichte gelungen, die - wie so oft - nur rückwärts verstanden werden kann. In mehreren Erzählsträngen bis weit in die Vergangenheit sucht sie Erklärungen für die dysfunktionale Beziehung zwischen Valerie und ihrer Mutter und was die Abwesenheit des Vaters bedeutet. Sie beschreibt einen Abnabelungsprozess, der auch die Vorstellung, alles im Griff haben zu müssen, beinhaltet.
Es ist ein Roman über vererbtes Schweigen: das Schweigen über Schicksalsschläge, Gewalt und Traumata. Denn was den Großmüttern passiert, tragen sie weiter und eine unsichtbare Last liegt damit auf zukünftigen Generationen. Wer keine Nähe erfährt, kann auch keine Nähe geben.
Vor allem aber ist es ein Roman übers Mutter- und Tochtersein, über enttäuschte Erwartungen und wie wichtig es ist, einfach mal die Wahrheit zu sagen.
Prokopetz zeigt zudem, dass es Themen wie unbezahlte Care-Arbeit, Mental Load und postnatale Depression schon immer gab und keine Phänomene der heutigen Zeit sind.

"Ein kluger, vielschichtiger Roman, der traurig-schön davon erzählt, was Familie mit uns macht", sagt @carowahl. So wahr!