Zwei starke Frauenfiguren

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scarletta Avatar

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Kein Wunder, dass dieser Roman in Schweden ein großer Erfolg wurde, weil es der Autorin gelingt, historische und aktuelle schwedische Themen miteinander zu verknüpfen. Diese Themen sind aber nicht auf Schweden begrenzt, sondern bewegen über Grenzen hinweg.

Der Roman erzählt über Freundschaft, Liebe und die persönliche Entwicklung zweier Frauen vor dem Hintergrund der Geschichte Nordschwedens in den letzten hundert Jahren. Zentral sind da die Rechte des indigenen Volkes der Sami („Lappen“) und Konflikte um die schwedischen Wälder, die schon länger und bis in unsere Tage ausgetragen werden.

Zwei starke Frauen verschiedener Generationen prägen jeweils einer der zwei, sich abwechselnden Zeitebenen. In beiden Fällen spielt die Handlung hauptsächlich in der Region um Djupsele, einem fiktiven Dorf in Västerbotten in Nordschweden.

Auf der Ebene der Vergangenheit beginnen wir in den 1930iger Jahren und lernen das Mädchen Siv kennen. Eigentlich träumt sie davon, die weiterführende Schule zu besuchen, um Lehrerin zu werden. Doch ihre Familie ist arm, so muss sie schließlich 17jährig anfangen zu arbeiten. Zunächst hat sie Stellungen in fremden Haushalten und dann wechselt sie auf das Betreiben ihres Vaters, eines Holzarbeiters, ziemlich unvorbereitet als Köchin in einer Waldarbeiterhütte. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, ganz allein in der Waldeinsamkeit mit 10 Männern kommt sie mit den Ansprüchen dieses Jobs besser zurecht und beginnt die Eigenständigkeit zu schätzen. In dieser rauen Natur trifft sie einen jungen Rentierzüchter, einen Sami.

Der Erzählstrang der Jetztzeit beginnt 2022: Sivs Enkelin Eva ist weit in den Vierzigern, alleinerziehende Mutter eines Sohnes und arbeitet in Uppsala als PR-Beraterin für ein großes Forstunternehmen. Sie hat ihre Wurzeln und Jugend in Västerbotten verdrängt, als ihre Firma sie wegen Widerständen und Aktivistengruppen gegen ein Abholzungsprojekt genau in den Ort schickt, aus dem ihre Familie väterlicherseits stammt. „Back to the roots“ sozusagen. Die geliebten Großeltern sind zwar verstorben, aber ein geerbtes Waldstück ist ihr hier geblieben – und die Erinnerung an eine Jugendliebe. Ihre beruflichen und persönlichen Positionen geraten nun ins Wanken.

Der Wald prägt die Geschichte Västerbottens und auch die Arbeitswelt beider Frauen. Doch die historischen und heutigen Gegebenheiten haben sich stark gewandelt. Der Wald ist ein großer Teil der Geschichte Norrlands und Västerbottens und auch von Sivs und Evas Lebensgeschichte.

Die Arbeit im Wald ist in der Vorstellung harte Männerarbeit. Aber auch viele Frauen haben in den Wäldern Nordschwedens im letzten Jahrhundert gearbeitet. Als Köchinnen arbeiteten sie vier eiskalte Wintermonate in kleinen Waldhütten und versorgten jeweils zehn Waldarbeiter. Der Arbeitstag begann für die Frauen wie Siv um halb fünf: Zeit, Feuer zu machen und Wasser zu erhitzen, ein sättigendes, reichhaltiges Frühstück zuzubereiten, Mittagessen zum Mitnehmen zu richten, alles zu bieten, damit die Männer die anstrengende Arbeit im Wald bewältigen können. Diese Köchinnen erlebten Wertschätzung, hatten es gut getroffen und erhielten guten Lohn. Das schätzt auch Siv. Wir erleben, wie sie an dieser Aufgabe wächst und die selbstständige Arbeit in der Natur lieben lernt.

Evas Blick auf den Wald ist eher pragmatisch, distanziert und von Regelungen und Bürokratie geprägt. Das Arbeitsleben von Siv und Eva ist inspiriert von der eigenen Familiengeschichte der Autorin Ulrika Lagerlöf. Auch ihre Großmutter arbeitete als Köchin in einer Waldhütte. Selber kann die Autorin auch ihre eigene Berufserfahrung in der Unternehmenskommunikation für die Forstwirtschaft einbringen.

Der forstwirtschaftliche Hintergrund des 2022-Zeitstrangs ist hochaktuell. Denn die Waldflächen Schwedens werden von der schwedischen Forstwirtschaft im Kahlschlag bewirtschaftet. Wir erleben, wie vor allem mit intensiven, billigen und schnellen Prozessen und mit minimaler Rücksicht auf die Belange der Natur gearbeitet wird. Auch Naturwälder mit geschützten und gefährdeten Arten werden abgeholzt. Dabei werden wichtige Rentierweidegebiete zerstört.

Spannend ist, wie die Frauen involviert sind in die Konfliktsituation zwischen den Rentierzüchtern, der Sami und den schwedischen Siedlern, die hinzukamen, sich immer mehr ausbreiteten und in Konkurrenz zu den Weidegebieten der Rentierzüchter traten.
Berührt wird damit die Geschichte des indigenen skandinavischen Volkes der Sami (früher „Lappen“). An dem Charakter des Waldsami Nila werden wir an die Zurückdrängung der Sami und deren Kultur über Jahrhunderte hinweg erinnert.

Noch im Zeitstrang des Jahres 1938 erleben die Sami Schikanen durch den Staat und die schwedische Bevölkerung, Diskriminierung und Entrechtung. Raumgreifende Neusiedlungen, die Suche nach Bodenschätzen und die extremer werdende Waldbewirtschaftung machen ihnen die Weideflächen der Rentiere streitig. Auch die Folgen des Sozialdarwinismus tönen an, der häufig als Grundlage von Rassentheorien diente und dementsprechend negativ für indigene Völker ausgelegt wurde.
Wir erleben, dass Protagonisten den Sami respektlos oder auch voller Verachtung begegnen.

Man merkt, wie gut und persönlich die Kenntnisse der Autorin über das Land und die unterschiedlichen Interessen, heute wie früher sind. Sie weiß ihre Leser*innen durch ihren Erzählstil wunderbar ins Geschehen hineinzuziehen.
Die beiden Frauencharaktere, ihre Konflikte, Widersprüche und Entwicklungen werden sehr intensiv und authentisch dargestellt. Neben ihnen treten auch Nebencharaktere der älteren und jüngeren Generationen auf. Nicht ganz so gut kommen die jugendlichen Aktivisten und Influencer weg, die auf nicht ganz legalen Wegen gegen die Abholzungen angehen.

Am Ende des Buches findet man ein historisches Foto einer Waldköchin wie Siv im Kreise ihrer Waldarbeiter. Ein Foto, das eigentlich perfekt auf das Cover gepasst hätte. Das Cover und der deutsche Titel lassen leider eher an einen Trivialroman denken. Das ist schade, denn der Roman enthält viel mehr.

Übrigens: dieser Roman ist der erste Teil einer Reihe, die in der schwedischen Ausgabe „Timmerfolk“ (zu deutsch Holzleute) betitelt wird. Im nächsten Mai erscheint der zweite Teil. Auf den freue ich mich sehr. Schön ist, dass der erste Teil einen sehr zufriedenstellenden Abschluss ohne quälenden Cliffhanger hat. Denn neugierig, wie es nun mit den Protagonisten weitergeht, ist man auf jeden Fall.