Atemberaubend

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fraedherike Avatar

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"Ich kenne dieses Dunkel. Darin habe ich mich schon früher verloren. Seine Hände sind meine, auch seine Lippen und und seine Zunge, und ich bin in ihm, werde tief hineingezogen, weit weg von aller Luft." (S. 102)

[TW: explizite (häusliche) Gewaltdarstellungen] Schon seit sie ein junges Mädchen war, ist Inti Flynn von Wölfen fasziniert, von ihrer Eleganz und ihrer Kraft, und nicht zuletzt auch von ihrer Fähigkeit, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, unsichtbar zu sein. Für sie gab es nichts Schöneres, als durch die Wälder zu streifen, von der Natur zu lernen, und so machte sie ihre Leidenschaft zum Beruf. Im Rahmen eines Projekts zur Rettung des Lebensraums in den Highlands kommt Inti nach Schottland und betreut die Wiederansiedlung einer Gruppe von Wölfen als leitende Biologin. Doch das ist nicht der einzige Grund für sie, ihre Heimat zu verlassen: Sie hofft auf einen Neuanfang, darauf, alles Gewesene, alle Erinnerungen hinter sich zu lassen, denn sie ist nicht mehr die, die sie einst war - seit dem Vorfall. Seit sie diese vernichtende Gewalt spüren musste. Doch nicht etwa am eigenen Leib: Inti hat die seltene Begabung, die Gefühle anderer Lebewesen körperlich nachzuempfinden. Als eines Tages ein Farmer tot aufgefunden wird, richtet sich alles gegen sie, gegen "ihre" Wölfe. Aber sie würden doch niemals einen Menschen angehen. Oder? Wer ist die wahre Bestie, Mensch oder Tier?

Es sind Bilder, die mich bis in meine Träume verfolgt haben, die Charlotte McConaghy in ihrem Roman "Wo die Wölfe sind" (OT: Once There Were Wolves, aus dem Englischen von Tanja Handels) zeichnet. Bilder von Gewalt und Schmerz, von Enttäuschung und Verzweiflung, von Zerstörung. Von Blut, so viel Blut an den Händen von Menschen, das niemals vergessen wird, dessen Spuren bleiben. Und Bilder atemberaubender Landschaften, rauer Wälder und tanngrüner Ausläufer. Unglaublich lebendig erzählt die Autorin die Geschichte einer jungen Frau, die, von ihrer Vergangenheit gezeichnet, versucht, gegen ihre Ängste anzukämpfen. Immer wieder wird sie mit Dingen konfrontiert, die alte Wunden reißen lässt, trotz dessen sie stets darauf bedacht ist, die Distanz zu wahren - zu Menschen wie zu ihren geliebten Wölfen. Sie scheut es, emotionale Bindungen einzugehen, das hat ihr ihre Erfahrung gelehrt. Der einzige ihr nahe stehende Mensch ist ihre Schwester Aggie, die gemeinsam mit ihr nach Schottland gekommen ist, um die Schottischen Highlands mithilfe der Wölfe vor der Verendung zu bewahren; sie sollen das natürliche Gleichgewicht der vom Klimawandel gezeichneten Landschaft wiederherstellen. Aggie spricht nicht, geht nicht aus dem Haus, das Leben hat das einst so mutige, wilde Mädchen kaputt gemacht - und Inti mit ihr. Durch ihre Mirror Touch-Synästhesie, bei der bestimmte Hirnareale stärker miteinander verknüpft sind und es in der Folge zu Hyperaktivität kommt, hat sie all das gefühlt, was ihr angetan wurde, und das hat sie vorsichtig gemacht. In Rückblicken wird immer deutlicher, wieso Inti und Aggie heute so sind, wie sie sind, woher ihre Liebe zur Natur kommt und was sie mit ihr verbinden, und wieso sie so misstrauisch im Umgang mit anderen Menschen sind. Ihre schwesterliche Verbindung überstrahlt alles, strahlt in hellen Farben und bereitete mir ein warmes Gefühl der Geborgenheit und Ruhe.

Aber dieser Ruhe sollte bald ein Ende gesetzt werden: Wie eingangs bereits beschrieben, sehen manche Menschen in der Gewalt den einzigen Weg, sich zu behaupten, wenn die Worte fehlen. Fast meinte ich, selbst eine Synästhetin zu sein, so schneidend, stechend, kratzend spürte ich die Übergriffe häuslicher Gewalt, die Ausdrücke männlicher Selbstbehauptung und Rache, das Blut, das auf den Boden tropfte, von den Lefzen der Wolfsschnauzen oder den Fäusten wutblinder Menschen. Die Gänsehaut bleibt, atemlos.

Doch es ist auch eine Atemlosigkeit der Überwältigung, wie viel die Autorin mit ihren Worten in mir ausgelöst hat. Nicht nur gibt sie gesellschaftsrelevanten Themen wie den Auswirkungen des sich immer weiter zuspitzenden Klimawandels eindringlich Raum zu wirken, endlich aufzuwachen, sie vermag es auch, Gefühlen ohne Worte eine Sprache zu geben, die im Ohr bleibt und emotional an einen Menschen zu binden, der einem bis vor wenigen Seiten noch völlig fremd war. Es war, als liefe ich selbst durch die feuchten Wälder, als spüre ich das warme Fell des Pferdes, dem Inti das Leben rettet, unter meiner Haut - als kämpfte ich selbst um mein Leben. Zu verfolgen, wie Inti sich immer mehr öffnet, Berührung zulässt, für sich und die Wölfe kämpft, hat mich mitgerissen, doch auf den letzten Seiten wollte die Autorin einfach zu viel. Die Ereignisse überschlugen sich, es wurde beinahe schon abstrus und irgendwo hinterlässt das bei all der Begeisterung - auch wenn vieles ziemlich hart, vielleicht grenzwertig war -, einen kleinen Dämpfer. Und doch, ich möchte es wirklich sehr.