Mensch oder Wolf - Wer ist hier der Böse?

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missmarie Avatar

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Sind es wirklich die Wölfe, die wir fürchten sollen, oder müssen wir uns eher Sorgen um die Angehörigen unserer Spezies machen? Charlotte McConaghy wirft in ihrem zweiten Roman Blick in menschliche Abgründe und rück dabei den Naturschutz in den Vordergrund. Spannend, mitfühlend und mit einem Blick für den Zauber der Natur erzählt.

Zum Inhalt:
Inti zieht mit ihrer Schwester von Alaska in die schottischen Highlands, um dort als Projektverantwortliche Wölfe wieder anzusiedeln. Das stößt insbesondere bei den schottischen Schäfern auch wenig Gegenliebe und so steht Inti vom Tag ihrer Ankunft an Hass und Drohungen gegenüber. Dabei wollten das Zwillingspaar in Schottland auch einen Neuanfang machen. Aggie, Intis Schwester, ist stark traumatisiert, spricht nicht und verlässt kaum ihr Bett. Inti selbst hat das äußerst seltene Mirror-Touch-Syndrom und fühle körperliche Empfindungen anderer wie die eigenen. Gleichzeitig entwickelt sich die Handlung immer mehr zu einem Kriminalfall.

Meine Bewertung:
Ich hatte große Sorge, von "Wo die Wölfe sind" enttäuscht zu werden, denn McConaghys Debüt "Zugvögel" hat mich begeistert. Der Klappentext deutet bereits an, dass sich die Autorin wieder einem Umweltthema widmet und auch erneut eine starke, aber gleichzeitig fragile Frauenfigur in den Vordergrund stellt. Ob der zweite Roman eine eigenständige Geschichte erzählt, habe ich mich gefragt. Und auch, ob McConaghy ihr erfolgreiches Thema wie andere Beststeller-Autor*innen einfach wieder aufwärmt.

Tatsächlich lässt sich McConaghys Stil deutlich wiedererkennen: Die Protagonistin ist ähnlich unabhängig und selbstzerstörerisch wie Franny aus "Zugvögel". Auch sie trägt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit mit sich herum, das Stück für Stück enthüllt wird. Dementsprechend gibt es auch hier immer wieder Zeitsprünge in die Vergangenheit der Figur. Auch die Rechtslage legen Inti wie Franny gleichermaßen großzügig aus, wenn dadurch die Umwelt geschützt werden kann. Aber nicht nur die Protagonisten ähneln sich. Der Polizist Duncan erinnert mich in seiner Figurenkonzeption stark an den Kapitän in McConaghys Erstling. Der Erzählstil ist ebenfalls sehr ähnlich.

Obwohl sich die Parallelen so lesen, als haben sich meine Befürchtungen erfüllt, bin ich von dem Buch dennoch begeistert. Das liegt vor allem daran, dass die Autorin so spannend von der Auswilderung der Wölfe erzählt, dass man beim Lesen die Luft anhalten möchte. Eigentlich haben mich Wölfe und ihren Einfluss auf die Umwelt vorher kaum interessiert. Das hat sich mit dem Buch verändert. Hier liegt die große Stärke des Romans.

Auch abgesehen davon ist "Wo die Wölfe sind" eine gute Story, die vor allem im zweiten Teil deutlich an Fahrt gewinnt. Auch wenn man das Ende recht bald vorausahnen kann und die Dramatik zum Schluss hin für meinen Geschmack "over the top" gewesen ist, würde ich das Buch dennoch empfehlen, nicht zuletzt wegen der philosophischen Komponente: Hier dreht sich alles um die Frage: Vor wem muss man sich tatsächlich in Acht nehmen? Vor den Menschen oder den Wölfen? Dieses kleine Gedankenexperiment hat mir gut gefallen. Und auch Inti ist mir als unabhängige, wilde und starke Figur sehr ans Herz gewachsen.

Fazit: Auch wenn es deutliche Parallelen zu Charlotte McConaghys Erstling gibt und die Geschichte stellenweise weniger Dramatik und Themenvielfalt gebrauchen könnte ist "Wo die Wölfe sind" eine klare Leseempfehlung.