Unsere Verantwortung gegenüber der Natur - und den Menschen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
schmiesen Avatar

Von

"Es gibt viel Grausamkeit, die wir überstehen, gegen die wir ankämpfen müssen, aber vor allem gibt es auch Sachtheit, unsere Wurzeln reichen tief und sind miteinander verflochten."

Inti ist eine junge Wissenschaftlerin, die mit ihrem Projektteam wieder Wölfe in Schottland ansiedeln will. Umweltschützer versprechen sich davon eine umfangreiche Renaturierung der Highland-Wälder, doch die Bewohner fürchten sich vor den Tieren und tun alles dafür, sie wieder loszuwerden. Die Feindseligkeit, die Inti entgegenschlägt, ist erdrückend, und doch findet sie in all dem Widerstand vielleicht doch etwas, das ihr Heilung bringt.

Erneut wendet sich McConaghy in ihrem Roman dem Zusammenspiel zwischen Natur und Mensch zu. Wann haben wir angefangen uns anzumaßen, unsere Landwirtschaft und Versorgung seien wichtiger als ein intaktes Ökosystem, in dem es eben auch Beutegreifer geben muss? Warum fürchten wir uns so sehr vor Tieren, die allein von unserem Geruch bereits zum Weglaufen getrieben werden? Und die wichtigste Frage von allen: Sind nicht in Wirklichkeit wir, die Menschen, die wahren Bestien?

Voller Herzblut bringt uns Inti die Wölfe und ihre besondere Beziehung zu ihnen näher. Wer dieses Buch liest, wird danach anders auf diese faszinierenden Tiere blicken. Und doch ist Intis Arbeit nicht frei von Zweifeln. Denn wer, wenn nicht einer ihrer Wölfe, fängt plötzlich an, Herdentiere zu reißen? In diesem Buch gibt es kein Schwarz-Weiß. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und jeder Mensch ist zu Grausamkeit fähig - nur die Wölfe, die sind nie einfach grausam. Sie jagen, um zu überleben. Und doch kann die Wut auf diesen Jagdtrieb nicht ausbleiben.

Inti begegnet fast ausschließlich Menschen, die sich ihrem Projekt widersetzen. Sie bangen um ihre Herden und Kinder, und Inti hat dafür nichts als Verachtung übrig. Die Grausamkeit der Highland-Bewohner ist auch für den Leser schockierend. Und seit Inti mit ihren Wölfen da ist, scheint es auch zwischen den Bewohnern immer mehr Brutalität zu geben. Es ist ein blutiges Buch, in dem die Liebe keimt, und in dem der Grundtenor trotz aller Gewalt ein liebevoller ist. Der Samen dieser Liebe ist die Beziehung zwischen Inti und ihrer Schwester Aggie, deren Untiefen sich nach und nach auftun.

Der Wechsel zwischen den Problemen und Herausforderungen der Gegenwart, in der Inti für die Wölfe kämpft und Aggie schon eine gebrochene Frau ist, und der Vergangenheit, in der McConaghy sich langsam aber sicher an Aggies und Intis Trauma herantastet, ist schlichtweg mitreißend. Es geht um den Vater und seinen Traum vom nachhaltigen Leben, um die Mutter und ihre Überzeugung, dass jeder Mensch böse ist. Und um Inti und Aggie, die irgendwo dazwischen ihre Wahrheit finden müssen. Intis besondere Wahrnehmung, ihr Mirror-Touch-Syndrom, lassen all diese Ebenen, zwischen Wölfen, Natur, Menschen und Bestien auf einzigartige Weise verschmelzen. Am Ende hat mich das Buch zu Tränen gerührt.

"Wo die Wölfe sind" ist ein vielschichtiger, umwerfender Roman, der zu keinem Zeitpunkt an Sogwirkung einbüßt. Absolutes Jahreshighlight!