"Besser die Zuckerdose als das Leben"

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elke seifried Avatar

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Kati Nauman hat mir, jemandem, der im Westen ohne Verwandtschaft in der DDR aufgewachsen ist und als die Mauer fiel noch kleines Kind war, bereits mit „Was uns erinnern lässt“ mit einem fesselnden Roman tolle Einblicke ermöglicht und auch hier habe ich wieder gebannt ein Stück Deutsch-Deutscher Geschichte miterleben dürfen.

Da Fred Langbein aufgrund seiner Demenz in eine Seniorenresidenz ziehen muss, heißt es für seinen Sohn Jan nun die ehemalige Spielzeugfabrik Langbein in Sonneberg, in der sein Vater bis zuletzt gelebt hat, auszuräumen. Das soll möglichst schnell gehen, denn die große Erbengemeinschaft schreit schon nach möglichen Mieteinnahmen, die man erzielen könnte. Zu den Erben gehören auch seine beiden Cousinen Eva, die wie Jan noch an dem Familienbesitz hängt, ist sie doch, wie er auch, dort und mit der Spielzeugherstellung groß geworden und hat viele Jahre ebenfalls in diesem Haus gewohnt und auch Iris, die zwar im Westen aufgewachsen ist, sich aber noch an einen unbeschwerten Sommerurlaub bei den Großeltern mit Cousin und Cousine erinnern kann. Die beiden zieht es ebenfalls vor Ort, um Jan bei seiner Arbeit zu unterstützen.

Eva, Iris und Jan sind Erben der ehemals prächtigen. In der Kaiserzeit gegründet, befand sie sich in der Weimarer Republik auf ihrem Höhepunkt, überstand zwei Kriege, deutsche Teilung und Verstaatlichung, nur um nach der Wiedervereinigung kläglich unterzugehen. Nun ist von der ehrbaren Langbein-Tradition nichts mehr übrig. Streit und Verbitterung haben sich auf die Hinterbliebenen übertragen. Doch als bei einer Internetauktion eine der seltenen Langbein-Puppen auftaucht – sorgfältig genäht und von ihrem Großvater persönlich bemalt –, rückt die verblasste Vergangenheit wieder heran und wirft unzählige Fragen auf: nach Schuld und Verlust, aber auch nach Hoffnung und Neubeginn.


Kati Nauman erzählt ihre Geschichte kapitelweise abwechselnd auf zwei Zeitebenen. Während man im Jetzt mit Jan, Iris und Eva das Haus Zimmer für Zimmer räumt, dabei auf viele Erinnerungen stößt und sich nicht nur ab und an in die Wolle bekommt, sondern auch mit einigen Missverständnissen aufräumt und so etwas mehr zusammenfindet, erfährt man in der Vergangenheit beginnend ab dem Jahr 1910 die Firmen- und Familiengeschichte. Man ist mit dabei als die Fabrik von Albert Langbein gegründet wird, erlebt welche Auswirkungen die beiden Weltkriege auf die Fabrik, die Produktion und auch auf die Familie selbst hat und erfährt anschließend natürlich auch von den Problemen und den Schikanen, die der Traditionsfamilienbetrieb nach der Teilung in Ost und West auf dem Weg zur Verstaatlichung erdulden muss. Auch wie die Familie unter der Situation litt, diese teilweise zerbrach und warum letztendlich im Heute nichts mehr von der Firma übrig ist, fehlt nicht.

Die Autorin beschreibt mit vielen Bildern und Vergleichen und so hatte ich die einzelnen Szenen stets wie in einem Film deutlich vor Augen. Lebhaft konnte ich mir ausmalen, wie der große Braunbär, der Brüllen konnte, im Schaufenster alle anlockte, mit welcher Ehrfurcht der Sicherheitsfüllfederhalter in Ehren gehalten wurde oder auch welche Freude ein Jan hat, wenn er die alte Modelleisenbahn wiederfindet und aufbauen kann. Auch emotional konnte mich Kati Naumann mit ihrem Roman voll einfangen. Besonders gelitten und gefühlt habe ich so z.B. mit Flora, die früh ihre Eltern und Geschwister verliert, dann verliebt ist, aber zunächst eine Vernunftehe eingehen muss. Später haben mich auch die Schikanen durch die Regierung teilweise fast wütend gemacht, mal ganz abgesehen vom Hass, den ich auf den miesen und geldgierigen Ehemann von Elsa entwickelt habe. Immer wieder durfte ich auch schmunzeln, wofür Szenen wie „Eines Tages ging Flora mit ihrer Tante zum Kolonialwarenhändler und entdeckte merkwürdig gebogene, gelbe Früchte. Mine klärte sie auf, dass dies Bananen seien. Das Einfuhrverbot für frische Südfrüchte war aufgehoben worden. Überrascht nahm Flora eine Banane in die Hand und sang: »Ausgerechnet Bananen«. Dann lachte sie. »Und ich dacht immer, in dem Lied geht’s um ein paar ganz besondere Blumen!« gesorgt haben. Sehr geschickt gemacht habe ich auch den Wechsel zwischen den Zeitebenen empfunden, denn die Recherchen und Aufräumarbeiten in der Gegenwart, das Finden von bedeutenden Gegenständen im Heute geben oft den Anstoß für die Sprünge in die Vergangenheit, die dann mehr darüber erzählt.

Die Figurenzeichnung der Autorin ist absolut authentisch, äußerst gelungen und zeigt durch die Vielfalt der Zusammenstellung auch einen breiten Querschnitt durch die damalige Bevölkerung. Beim überzeugten Nazi angefangen, über den späteren Republikflüchtling bis hin zum Stasi-Informant, sind unzählige verschiedene Überzeugungen und Einstellungen vertreten. Sicher mit am meisten für sich einnehmen konnte mich Flora mit ihrer genügsamen, stets zuversichtlichen und mutmachenden Art. Sie ist eine Großmutter, wie man sie sich nur wünschen kann, so froh war ich daher z.B. dass ihr Ehemann Otto sich nach einer Vernunftehe dann tatsächlich doch noch in sie verliebt. Im Jetzt hat wohl Jan am meisten von ihrer ausgleichenden Art, während sich Iris und Eva eher in die Wolle bekommen. Die Entwicklung aller, im Heute durch die gemeinsame Räumaktion und das Aussprechen von lang unterdrückten Vorwürfen und in der Vergangenheit durch die äußeren Umstände sind realistisch und nachvollziehbar gezeichnet.

„Zeitung ihre Bürger auf, in der Gastwirtschaft beim Abschied nicht mehr das übliche »Adieu«, sondern »Auf Wiedersehen« zu sagen. Ein Verstoß würde mit fünf Pfennigen bestraft.“, „Überall an den Ständen waren diese neuen Symbole. Es gab Puppen in den Uniformen der Hitlerjugend mit Zugschnur am Rücken, die »Heil Hitler!« plärren konnten. Es wurden Plastikpistolen ausgestellt und Bleisoldaten, Kanonen, Panzer, Kinderstahlhelme und kleine Uniformen. Selbst die renommierten Hersteller wie Steiff und Käthe Kruse sprangen auf diesen gewinnträchtigen Zug auf.“, »Zuerst einmal, es gibt keine unehelichen Kinder mehr. Und das hab ich nicht aus einer Broschüre, das steht im Familiengesetzbuch der DDR.« oder auch „dann drehte sie den Knopf des Fernsehgeräts an. Es war ein hölzerner Kasten der Marke Rembrandt, mit stoffbespannter Front, in der eine Bildröhre saß, nicht viel größer als Hugos Hand“ sind nur vier Beispiele aus verschiedenen Zeiten, die dieser historische Roman umspannt, die von den unzähligen kleinen interessanten Details zeugen, die sich im Erzählten verstecken. Genau diese kleinen Informationen, die Geschichte so spannend machen, zeichnen die guten unter den historischen Romanen für mich aus. Hier kann ich der Autorin abschließend zusätzlich ein großes Lob für die gründliche und gute Recherchearbeit aussprechen.

Alles in allem ein fesselnder historischer Roman, der eine bewegende Familiengeschichte erzählt und eine gelungene Zeitreise durchs letzte Jahrhundert bietet. Für mich stehen da fünf Sterne außer Frage.