Das hätte so viel Potential gehabt!

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jojoooo Avatar

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Selten war ich bei der Rezension eines Buches so hin und her gerissen wir bei Kati Naumanns “Wo wir Kinder waren”. Während mich immer wieder kleinere Dinge positiv überrascht haben, hat das Buch aus meiner Sicht auch mehrere leider nicht unwesentliche Mankos. Hier mal eine Übersicht:
Zunächst mal dazu, was mir sehr gut gefällt: Ich bin begeistert, mit welcher Liebe zum Detail und mit welchem Aufwand die historischen Gegebenheiten recherchiert und wiedergegeben sind. Auf jeden Fall klingt alles sehr authentisch. Und auch, wenn ich oft kein so großer Fan davon bin, wenn zwischen verschiedenen Zeiten hin und her gewechselt wird, muss ich sagen, dass das in diesem Buch sehr gut gelöst ist. Es werden immer direkte Bezüge zwischen der Jetztgeschichte und der historischen Geschichte gezogen, sodass man gut mitkommt und gar nicht so arg umschalten muss. Auch dass sich die Kapitel wirklich genau abwechseln – immer eins zur Jetztgeschichte, dann ein historisches Kapitel – war für mich auf Dauer angenehm, weil ich so den beiden Geschichten besser folgen konnte. Die Protagonisten des historischen Erzählstrangs fand ich in der Regel sympathisch und habe gern mehr über sie und die Zeit, in der sie lebten, erfahren. Ein weiteres Plus ist das wunderschöne Cover, das mich überhaupt erst zum Lesen verleitet hat und das auch nach Lektüre des Buchs super zum Inhalt passt.
Nun zu den diversen Dingen, die ich als problematisch empfunden habe: Vor allem haben mich die drei Protagonisten Eva, Iris und Jan quasi konstant genervt. Dass es sich um gestandene über-50er handelt und nicht um spätpubertäre gerade-so-Erwachsene, ist an ihrem Verhalten nicht zu erkennen. Die Hälfte des Buches gibt es an den Haaren herbeigezogene Streitereien, die ich mir auch jetzt noch nicht erklären kann, weil einfach kein gerechtfertigter Grund genannt wird. Die andere Hälfte dann herrscht Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung, die ich nie glauben konnte, weil man sich ja dann ein paar Seiten weiter wieder über dieselbe Nichtigkeit in die Haare gekriegt hat. Einfach nervig und unnötig. Das wird auch dadurch nicht besser, dass quasi bis ganz zum Schluss in der Jetztgeschichte nichts passiert, außer dass das alte Wohnhaus von Gerümpel befreit wird (bei fast 500 Seiten insgesamt sind das ganz grob immerhin etwa 200 Seiten…). Hinzukommt, dass die drei Protagonisten blasse Schemen bleiben, weil man zu wenig über ihre Lebenssituation erfährt. Nur in Nebensätzen wird erwähnt, dass sie verheiratet, geschieden, und Eltern sind – mehr erfährt man eigentlich nicht. Das finde ich etwas erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das Buch ja recht umfangreich ist und auch sonst alles sehr kleinlich geschildert wird. Auch die große Enthüllung, die zwar nirgends angekündigt wurde, die ich aber durch die Geschichte doch irgendwie erwartet habe, blieb am Ende aus.
Leider merkt man dem Buch auch an, dass während des Schreibprozesses einiges herumgeschoben wurde. Bezugswörter stehen bisweilen am Anfang eines Absatzes, ohne dass klar wird, auf wen man sich gerade bezieht. Vieles wirkt daher unfertig und zusammenhanglos. Es ist keine Seltenheit, dass man Absätze vorfindet, die nur zwei Sätze umfassen und völlig aus dem Kontext gerissen irgendetwas beschreiben, was danach nie wieder erwähnt wird – geradezu stichpunktartig. Der rote Faden ist leider zu oft nicht zu finden. Das ist einfach schade.
Mein Fazit alles in allem: Ich bin enttäuscht. Aus der Idee hätte man eine wahnsinnig gute Geschichte machen können. Zum Teil ist das auch gelungen – aber halt leider nur in geringem Umfang. Es wirkt ein bisschen, als wäre der fertigen Ausgestaltung ein Abgabetermin dazwischengekommen. Cover und Klappentext regen auf jeden Fall zum Kauf an – aber es kommt ja nicht von ungefähr, dass man auf Englisch sagt: “don’t judge a book by its cover”…