Ausbruch aus Konventionen

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Bijoux stammt aus Kinshasa, muss aber vorgeblich aufgrund der Unruhen in der Heimat zu ihrer Tante Mira nach London ziehen. Sie versteht nicht nur die distanzierte Art ihrer Verwandten nicht, auch deren wahnhaften Glauben an Gott und die Gemeinschaft setzen sie in Fesseln. Als sie im Erwachsenwerden erkennt, dass ihre Liebe Frauen gilt, erfährt sie die volle Härte der familiären Banden. Doch auch Mira hat eine Vergangenheit, die so gar nicht in das vorgegebene Weltbild passt.

Christina Fonthes erzählt in "Wohin du auch gehst" die Geschichte zweier Frauen, die sich zwischen den engen Grenzen afrikanischer Traditionen und den sich auflösenden Beschränkungen in der europäischen afrikanischen Community bewegen bzw. daraus auszubrechen versuchen. Sie erzählt aus zwei Perspektiven: Protagonistin Miras Erzählung spielt in der Zeit zwischen 1974 und 1997, Bijoux Erlebnisse verfolgen wir von 2004 bis 2007. Schnell kann gemutmaßt werden, dass die beiden eine engere Vergangenheit miteinander verbindet, als sie zu wissen scheinen. Durch die Rückblenden wissen wir, dass Mira vieles durchmachen musste, auch wenn uns bis kurz vor Ende die wahren Ausmaße nicht bewusst sind und auch nicht geahnt werden können. Miras gegenwärtiges Ich ist nur schwer zu greifen: sie ist äußerst distanziert und fanatisch gläubig. Lange Zeit ist unverständlich, wie sie eine so harte und strickt konservative Frau werden konnte, denn in ihren Rückblenden ist sie eine sensible und durch die vielen Schicksalsschläge immer stärker werdende Frau. Ihre Nichte Bijoux fühlt sich von ihr abgestoßen, sie kann und will sie nicht durchschauen, auch wenn sie sich lange Zeit an ihre strikten Regeln hält. Besonders erschreckend ist die Vorgehensweise, nachdem Bijoux ihrer Tante die Liebe zu einer Frau gesteht: mittels des Pastors wird eine Art Teufelsaustreibung durchgeführt, die die junge Frau von ihrer Homosexualität heilen soll. Bijoux fügt sich und geht eine arrangierte Ehe ein, doch nachdem auch mit ihrem Mann "etwas nicht stimmt" und sie in der Kirchengemeinde eine neue Liebe kennenlernt, versucht sie einen Ausbruch aus den starren Fesseln der Gemeinschaft.

In "Wohin du auch gehst" durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Die groben Einschränkungen der Gemeinschaft lassen einen kaum Raum zum Atmen, ich fühlte das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen sogenannter Tradition der christlich-afrikanischer Gemeinschaft und dem Streben nach dem eigenen Glück der Protagonistin Bijoux. Lange Zeit konnte ich kein Verständnis für Mira aufbringen, konnte mir ihre extreme Distanziertheit Bijoux gegenüber und ihren fanatischen Glauben nicht erklären. Bis kurz vor Schluss dachte ich mir, es gäbe keine Erklärung für ihr Verhalten, doch am Ende schafft es die Autorin das Rätsel zu lösen, auch wenn die Aufklärung für das Gesamtbild fast ein wenig zu spät kommt. Bijoux, in moderneren Zeit aufgewachsen, ist trotzdem tief in der Community verwurzelt, fügt sich lange Zeit dem gesellschaftlichen Druck, bis sie es schafft, sich selbst daraus zu befreien.

Besonders beeindruckend fand ich das Spiel mit den Twists in der Geschichte - oft ahnen die Leser*innen schon einiges und es dauert manchmal unnpackbar lange, bis die beiden Protagonistinnen erkennen, was Sache ist. Das stellt die eigene Geduld manchmal auf die Probe, lässt die Geschichte aber auch glaubhafter machen. Anderes wiederum konnte bis zum Schluss nicht geahnt werden, wodurch man am Ende mit einem großen Aha-Erlebnis belohnt wird und einen auch mit der oft unverständlichen Mira versöhnt. Als kleinen Kritikpunkt möchte ich erwähnen, dass die Auflösung fast zu rasch geschieht, besonders was den religiösen Fanatismus betrifft, der trotz allem eher unverständlich bleibt.

Mein Fazit: "Wohin du auch gehst" ein gelungener Roman über die engen Grenzen einer Community und das safte Ausbrechen daraus. Er ermöglicht es, die eigene Meinung anhand der Geschichte immer wieder ein Stück zurecht zu rücken und zu erkennen, dass meist mehr hinter gewissen Konventionen und Verhaltensweisen steckt, als auf den ersten Blick ersichtlich. Am Schluss überrascht die Autorin mit einem Twist, der einen schließlich auch mit der unzugänglich scheinenden Protagonistin Mira versöhnt. Eine große Leseempfehlung für alle, die Frauen bei der Selbstermächtigung begleiten wollen und dafür auch die nötige Geduld aufbringen.