Neuer Blick auf Afrika

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kleine hexe Avatar

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Die beiden weiblichen Hauptgestalten, Mira - Tantine Mireille und Bijoux wirken sehr lebensecht und natürlich. Beide werden in Zaire, bzw. Kongo geboren, leben eine Zeitlang in Kinshasa, bevor sie nach Europa auswandern. Im Abstand von 12 Jahren kommen sie nach Europa. zuerst Mira, über Belgien, Paris und dann London, danach Bijoux direkt nach London zu Tantine Mireille. Bijoux hat mir richtig leid getan. Ihre glückliche Kindheit bei ihren Eltern und Großeltern in Kinshasa geht jäh zu Ende als nach Ausbruch von Unruhen in der Hauptstadt, ihre Mutter sie nach London bringt, zu der kaltherzigen Tantine Mireille. Dabei hat Mireille nur Angst vor erneuten Unruhen in der Demokratischen Republik Kongo und will das Kind in Sicherheit bei sich wissen.
Peu á peu erfahren wir, wie aus Mira, dem jungen Mädchen voller Liebe, die kaltherzige Tantine Mireille wurde, wie sie überhaupt überlebte. In Paris verliebt sie sich in einen Mann, Alexandre, sie heiraten und kurz darauf stirbt er an Aids. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war Frankreich von einem Skandal erschüttert. Es starben etliche Menschen an AIDS wegen verseuchter Bluttransfusionen. Alexandre ist einer von ihnen. Nach Bekanntgabe der Todesursache wird Mira sofort von der schwarzen französischen Parallelgesellschaft gemieden. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als nach London zu gehen. Ohne die Sprache zu sprechen, ohne einen Menschen zu kennen, ist sie verloren, bis sie auf streng evangelikale Schwarze trifft, Schwester Francine, Vater und Mama Pasteur, die sie aufnehmen, ihr helfen, auf die Füße zu kommen. Sie wird auch streng gläubig und in diese Atmosphäre holt sie Bijoux zu sich.
Bijoux entwickelt sich anders. Sie wird zur Lesbe, versucht die Ehe mit Bruder Fabrice, nachdem sie einen Exorzismus über sich ergehen lässt. Doch ihre wahre Natur kann sie nicht leugnen. Ihre Ehe ist ein Fiasko, die Liebe zu Chancey ist die Rettung für Bijoux. Endlich akzeptiert auch ihre Familie das und sogar Bruder Fabrice und seine Mutter akzeptieren Chancey.
Das Ende des Buches endet in einem versöhnlichen Ton, die offenen Fragen werden geklärt, das Kind, das Bijoux in sich trägt wird in eine harmonische bunte Familie hineingeboren werden.
Die Handlung des Buches findet auf verschiedenen Zeitebenen und unterschiedlichen Orten und Ländern statt. Afrika und Europa sind die geographischen Parameter, 1974 bis 2007 ist die Zeitachse, entlang derer die Stationen im Buch spielen, aber nicht linear, sondern abhängig davon, welche Person gerade im Blickpunkt ist, ist mal ein Jahr, mal ein anderes im Vordergrund. Gleichzeitig wird damit auch der gesellschaftliche Wandel illustriert. Zwischen 1989 und 2006 liegen Welten.
In einem einzigen schmalen Buch bringt Christina Fonthes viele schwere Themen zur Sprache: Strenggläubige, Femizid, Aids, Queere Menschen, Bürgerkrieg, Zweitfrauen, Vergewaltigung, Flucht, Exil, Ausgrenzung, Parallelgesellschaft, Vorurteile, Gewalt, um nur ein paar Schlagworte zu nennen.
Diogenes setzt mit dem Schutzumschlag die Tradition fort, auf weißem Hintergrund ein Bild zu bringen. Dieses Mal ist es ein Gemälde von Tamara Tashna Downes “Ngozi” (=gesegnet), das unglaublich gut zum Buch passt.
Kennt ihr “The Fiddler on the Roof”, Buch und Film und Musical? Die Juden, die nach Pogromen und Verfolgungen nach Amerika auswandern? Auch da nehmen sie ihre Bräuche, strengen Gebote und Verbote mit, in Form des Fiddlers on the Roof mit. Wer braucht eigentlich einen Geiger auf dem Dach? Niemand. Und doch wird er überallhin mitgenommen. Die Iren, die nach der großen Hungersnot nach Amerika auswanderten, nahmen ihre Angewohnheiten, Traditionen und Gebräuche mit. Genauso die Italiener, mit der Mafia oder die Chinesen, die in jeder größeren amerikanischen Stadt ihr eigenes China Town bauten und bewohnten. Genauso tun es nun die Afrikaner.
Was mich fasziniert hat, ist die Parallelgesellschaft der Afrikaner in Europa, egal ob Brüssel, Rotterdam, Paris oder London (wahrscheinlich auch Berlin, München, Köln). Die Afrikaner bleiben unter sich, helfen oder töten sich gegenseitig, lieben sich oder verstoßen ihre Mitglieder, aber kein Wort nach außen. Keine der Personen im Buch hat europäische Freunde, nur gesichtslose Arbeitskollegen. Das ist ein Zeichen von total missglückter Integration. Die Schulen sind graue Institutionen mit teuren Uniformen und kostspieligen Schulmaterialien. Auch da kommt es zu keinen Interferenzen. Die Afrikaner haben eigene Kirchen und Gebetsräume.
Auch das Essen ist typisch afrikanisch, und wenn sie nicht an die Zutaten kommen, wird auch mit Spinat gekocht. Aber Speisen wie Fufu, Fumbwa, Kwanga, Madesu, Mikaté, Ngai-Ngai, Pondu, Tshaka Madesu lassen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, sie klingen so erdig und exotisch zugleich. Ich würde mal gerne einen Bulukutu Tee probieren.