Schweigen ist eine Sprache – und dieser Roman übersetzt sie

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xxholidayxx Avatar

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Was bedeutet es, zu sich selbst zu stehen, wenn Familie, Religion und Gesellschaft etwas anderes verlangen? Christina Fonthes' Roman "Wohin du auch gehst" stellt diese Frage mit Wucht, Tiefe und vielschichtiger Emotionalität. Ein Buch, das mich nicht losgelassen hat.

Schon der Klappentext hat mich neugierig gemacht, die Leseprobe dann restlos überzeugt. Und ich kann sagen: Die 400 Seiten sind intensiv, literarisch durchdrungen von Schmerz, Hoffnung, Liebe und Wut. Ich bin durch sie hindurchgeflogen und wurde dabei immer wieder innegehalten.

Denn Fonthes erzählt in poetischer, atmosphärisch dichter Sprache die Geschichte von Bijoux, die nach politischen Unruhen im Kongo zu ihrer Tante nach London geschickt wird. Dort verliebt sie sich in ein Mädchen, während sie in einem religiös geprägten Haushalt aufwächst, der von Regeln, Schuld und Schweigen geprägt ist.

"Schweigen ist eine Sprache. Und wie jede Sprache muss man sie erlernen." (S. 15) – Dieser Satz beschreibt nicht nur das emotionale Klima, in dem Bijoux aufwächst, sondern auch den Sound des Romans. Fonthes beherrscht es meisterhaft, das Unsagbare zwischen die Zeilen zu schreiben: koloniale Traumata, sexualisierte Gewalt, religiöse Indoktrination, lesbische Liebe und der unbändige Wunsch nach Zugehörigkeit.

Die Figuren, allen voran Bijoux und Tantine Mireille, sind vielschichtig und glaubhaft. Mira etwa wirkt lange wie eine Gegnerin, bis ihr eigener Schmerz deutlich wird. Die Art, wie Fonthes unterschiedliche Frauenschicksale verwebt, hat mich bewegt. Dabei spart sie Gewalt nicht aus. Doch auch diese Momente sind fein eingebettet: nie voyeuristisch, nie effekthascherisch.

Der Roman verhandelt große Themen: Kolonialismus, postmigrantische Identität, queeres Begehren und queere Identität, religiöse Machtstrukturen und generationsübergreifende Traumata. Das Glossar mit Lingala-Begriffen ist hilfreich, wobei ich mir die Erklärungen/Übersetzungen lieber als Fußnoten gewünscht hätte. Besonders gelungen finde ich, wie Fonthes die inneren Konflikte von Bijoux mit ihrer Umgebung verschränkt: London, Kinshasa, Paris – all diese Orte sind nicht nur Kulisse, sondern emotionale Koordinaten.

Fazit: "Wohin du auch gehst" ist ein literarisch eindrucksvolles Debüt, das mit seiner sprachlichen Kraft und thematischen Dichte besticht. Es erzählt davon, wie schwer es ist, sich selbst zu finden, wenn die Welt einen in Rollen zwingt. Die emotionale Tiefe, die gesellschaftliche Relevanz und die eindrucksvoll gezeichneten Figuren machen das Buch für mich zu einem Lesehighlight. Es klingt lange nach und erinnert an Werke von Bernardine Evaristo, Chimamanda Ngozi Adichie, Mirrianne Mahn oder Amanda Peters.

Vielen Dank an @lovelybooks.de, @diogenesverlag und @christinafonthes für das kostenlose Rezensionsexemplar.