In der Lebensmitte fast zurück auf Null

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Julia stammt aus Innergebirg, einem kleinen Ort mit sehr dörflichen Strukturen in Österreich. Nun hat sie viele Jahre in der Stadt als Krankenschwester gearbeitet und das urbane Umfeld sehr genossen. Ein beruflicher Fehler wirft sie zurück, sie muss ihre Arbeitsstelle aufgeben und das Zimmer im Schwesternheim räumen. Die drastische Veränderung schlägt ihr auf die Gesundheit, sie bekommt im wahrsten Sinn des Wortes keine Luft mehr. In diesem Zustand sucht Julia im Elternhaus Zuflucht. Dort muss sie feststellen, dass ihr Vater neuerdings alleine lebt, weil die Mutter „das Vatergefängnis“ in Richtung Süden verlassen hat, um noch einmal neu zu beginnen. Auch für Julia ist das Zusammensein mit ihrem Vater eine Herausforderung, gegenseitiges Schweigen gehört zum Tagesablauf. Man redet nicht und schon gar nicht über Gefühle.

Das Dorf wirkt trist und nahezu unverändert. Das ländliche Arbeiter-Milieu wird hervorragend gespiegelt. Die letzte Arbeit gebende Fabrik hat ihre Tore geschlossen. Viele Junge sind in die Stadt gezogen, die Älteren sind noch da, treffen sich täglich im Wirtshaus zum Trinken oder zum Spielen. Mit den Augen der Ich-Erzählerin lernen wir den Ort und seine überwiegend männlichen Bewohner kennen, erfahren auch Vieles aus Julias eigenem Leben, über die Schwierigkeiten und Schicksalsschläge ihrer Familie, die zur Schweigsamkeit beigetragen haben: „Schweigen war einfach Stille, und Stille war die Abwesenheit von Lärm. Verhandelt wurde nur noch das Offensichtliche.“ (S. 46)

Julia muss sich neu orientieren, ihre Gedanken, Wünsche und Ziele sortieren. Ihre Möglichkeiten scheinen als Frau Ende Dreißig nicht allzu vielfältig zu sein. Doch begegnen Julia Menschen, die sie inspirieren und vorwärts bringen, sie an ihre Talente und Jugendträume erinnern. Allen voran ist das ihre alte Schulfreundin Bea. Auch der Städter Oskar, der ein bedingungsloses Jahreseinkommen gewonnen hat und gleichfalls auf der Suche nach einem Neuanfang ist, befruchtet ihre Überlegungen über die Zukunft. Zwischen ihm und Julia entwickelt sich eine zaghafte Freundschaft zwischen Liebe und dem Drang nach Unabhängigkeit.

„Wovon wir leben“ ist ein ruhiges, getragenes Buch. Birgit Birnbacher hat einen ganz eigenen Ton. Sie erzählt langsam, dicht, distanziert, aber sehr atmosphärisch mit viel Poesie, so dass Bilder im Kopf entstehen, über die man nachdenken muss. Die enge, dörfliche Szenerie wird ungemein realistisch beschrieben. Die dort lebenden Charaktere wirken überwiegend kauzig und wunderlich, der ein oder andere auch etwas überzeichnet. Ich bin der Handlung sehr gern gefolgt, auch wenn eigentlich nichts Spektakuläres passiert. Wie nebenbei lässt die Autorin zeitgemäße feministische Themen einfließen, während Julia mit ihrer zugewiesenen Rolle hadert. Sie ist dabei eine äußerst feinsinnige Beobachterin. Die Innensichten der Erzählerin über ihr Leben, ihre Herkunft, ihr persönliches Scheitern werden sehr glaubwürdig ohne jede Pathetik transportiert. Julias Überlegungen sind messerscharf, sie analysiert ihre Situation gründlich und hat auch einen klaren Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer Umgebung.

Der Roman wird von einer latenten Melancholie durchzogen und hält zahlreiche kluge Sätze und Dialoge bereit, die den Leser immer wieder innehalten lassen. Zum Ende hin hätte ich mir etwas mehr Entwicklung gewünscht. Da blieben für mich offene Fragen sowie eine leise Enttäuschung, die ich nicht recht begründen kann. Dennoch möchte ich den Roman allen Lesern empfehlen, die sich gerne mit psychologisch dicht gewebten gesellschaftlichen Familien- und Frauenthemen beschäftigen. Ich werde definitiv neugierig auf weitere Romane der Autorin bleiben. Ihr Sound hat mir schon in „Ich an meiner Seite“ sehr gut gefallen und ist einfach einzigartig.