Knackig komplex

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alasca Avatar

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Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Birnbachers schmaler Roman erweckt diese Bibel- und Binsenweisheit zu neuem Leben.

Julia, Ende 30, hat aufgrund eines Fehlers ihren Job als Krankenschwester verloren, damit auch ihre Dienstwohnung, und sieht sich gezwungen, zurück auf´s Land zu ziehen. Sie hofft, unter der Fürsorge vor allem der Mutter wieder neue Kraft für einen Neuanfang schöpfen zu können. Daraus wird nichts: Die Mutter ist endlich aus ihrer unglücklichen Ehe geflüchtet und bewirtet nun Pensionsgäste auf Sizilien. Der Vater erwartet von Julia, dass sie die Versorgerrolle der Mutter nahtlos übernimmt. Julia ist emotional am Limit. Die Begegnung mit einem Kurgast mit dem schönen und unwahrscheinlichen Namen Oskar Marin, der ein Jahr lang eine Art bedingungsloses Einkommen gewonnen hat, führt zu zusätzlichen emotionalen Verwicklungen – zunächst einmal zu Neid.

Der Roman hat mich sowohl sprachlich als auch inhaltlich fasziniert. Birnbachers dichte Sprache benötigt unter 200 Seiten, um sich mit einer Reihe existenzieller Fragen rund um die Bedeutung von Arbeit, Pflicht und Individualität mit großer Tiefe auseinander zu setzen. Ihr Personal beleuchtet dabei verschiedene Aspekte, ohne jemals schablonenhaft rüberzukommen. Im Gegenteil sind Birnbacher ihre Figuren bis in die letzte Nebenfigur unglaublich dreidimensional gelungen. Nicht zuletzt die zur Verzweiflung aller Anwohner ständig klagende Ziege Elise, die keine Ruhe gibt, bis die Ursache ihres Leidens erkannt ist.

Nicht nur Julia ist arbeitslos – das halbe Dorf ist es, seit „die Fabrik“ zugemacht hat. Von Alkoholismus bis Eskapismus reichen die Bewältigungsstrategien. Arbeit ist das halbe Leben – hat man plötzlich das ganze zur Verfügung, schiebt so mancher Panik. Wieder andere fühlen sich befreit, wie Oskar, obwohl er eine Zwangspause aufgrund eines Herzinfarkts macht. Julia sieht sich in ihren Entscheidungen durch vielfache Bande ausgebremst – durch den alternden Vater, den geistig behinderten Bruder, der in einer Einrichtung untergebracht ist – vor allem aber durch ihre eigenen Prinzipien. Oskar überlegt, im Dorf zu bleiben, Julia hat Fluchtreflexe. Birnbachers Ideenträger beleuchten unterschiedlichste Wahrnehmungen.

Was ist Arbeit? Was bedeutet sie? Muss Arbeit Spaß machen? Einen Sinn haben? Kann sie auch sinnstiftend sein, wenn sie keinen Spaß macht? Wo hört die Pflicht auf und wo beginnt das Recht auf persönliches Glück? Muss jede/r „einen Beitrag leisten“? Kann ein Mensch, der Freunde und Familie hat, frei sein? An welchem Punkt mutiert Individualität zu Egoismus? Kann etwas eine Antwort für den einen Menschen und eine Frage für den Anderen sein?

Julia muss sich entscheiden, wie sie den Rest ihres Lebens angehen will. Wir erleben aus ihrer Perspektive, wie sie sich durch dieses Labyrinth von Fragen kämpft, während alle um sie herum ihr Möglichstes tun, um ihre Entscheidung in ihrem eigenen Interesse zu beeinflussen. Das liest sich spannend bis zum nicht ganz offenen Ende. Und auch die knappe, dennoch oft lyrische Sprache von Birnbacher war mir ein Genuss.

Empfehlung!