Schaumstoff statt Traumstoff

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r.e.r. Avatar

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“Und was sich ihm hier bot, war der Stoff, von dem er nur träumen konnte: ein hundertjähriger Indianer, eine verstörte Provinzstadt, ein Baulöwe und Gerüchte von einem bösen Geist”. So schreibt Jodi Picoult in ihrem Roman "Zeit der Gespenster". Traumstoff? Eher Schaumstoff würde ich sagen!

Ross Wakeman kann nicht sterben. Dreimal hat er vergeblich versucht sich umzubringen. Seit er vor einigen Jahren seine Verlobte Aimée bei einem Autounfall verlor, ist er des Lebens müde. Allerdings glaubt er, dass Aimée in der Zwischenwelt der Gespenster lebt und noch nicht ihre ewige Ruhe gefunden hat. Aus diesem Grund entschließt er sich als Geisterjäger auf die Suche nach ihr zu gehen.

Die Bewohner von Comtosook in Vermont, zu denen auch Ross Schwester Shelby gehört, haben derweil andere Sorgen. Ein Stück Land, auf dem man einen alten Indianerfriedhof vermutet, soll verkauft und zu einem Einkaufszentrum umgewandelt werden. Eine Gruppe von Abenaki, indianischen Ureinwohnern dieser Gegend, protestiert dagegen. Und wird, so scheint es, von höheren Mächten unterstützt. Mitten im August gefriert der Boden. Das alte Herrenhaus, das bereits abgerissen war, baut sich von selber wieder auf. Der zuständige Bauunternehmer Rod van Vleet bittet Ross um Hilfe. Er soll dem Spuk auf den Grund gehen und ihm ein Ende machen.

 

“Zeit der Gespenster” besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil, wir schreiben das Jahr 2001, legt die Autorin ihre Geschichte in der Erzählperspektive aus der Sicht des jeweils handelnden Protagonisten an. Allein im ersten Kapitel führt Sie fast auf jeder Seite einen neuen Charakter ein. Elfmal wechselt Sie Person und Handlungshintergrund. Das ist unübersichtlich und verwirrend. Und geht auf Kosten ihrer Figuren. Der Leser lernt alle ein bisschen, aber keinen richtig kennen.

Im zweiten Teil geht es zurück ins Jahr 1932. Wir erfahren, dass es in Vermont in den 1920er und 1930er Jahren ein Eugenik-Projekt gegeben hat. Eine Gruppe von Wissenschaftlern versuchte unter anderem “degenerierte” Menschen davon zu überzeugen, sich “freiwillig” sterilisieren zu lassen. Betroffen waren Kranke, Behinderte, Verbrecher und Menschen mit dunkler Hautfarbe. Vor dem malerischen Hintergrund von Vermont spielten sich grausame familiäre Tragödien ab. Dieser Teil ist hochinteressant und spannend.

Im dritten Teil, wieder zurück in der Gegenwart, löst die Autorin alle Handlungsstränge und auch die Geheimnisse aus dem Sommer 1931 auf. Dabei überschlagen sich die Ereignisse. Denn, so erzählt die Autorin in einem Interview, es war schwierig alle Anknüpfungspunkte aus dem ersten Teil so zu arrangieren, dass Sie diese im letzten Teil auflösen konnte. Das merkt man. Einige Auflösungen wirken zu bemüht um glaubwürdig zu sein.

“Zeit der Gespenster” ist eine Mischung aus Schauerroman, Krimi und sozialwissenschaftlicher Abhandlung. Gerade noch schreiben unsichtbare Geisterhände Botschaften auf beschlagene Badezimmerspiegel, da wird der Leser im nächsten Moment mit wissenschaftlichen Tabellen konfrontiert, wo ein einfacher Satz zur Erläuterung des Sachverhaltes ausgereicht hätte. Im Gegensatz dazu bleiben die Figuren oberflächlich und vage. Picoult beschreibt  die seelische Lage von Ross Wakeman mit leeren Worthülsen (“Sie musste doch die Leere in seinem Innern spüren“), aber Sie zeigt sie nicht an konkreten Beispielen. So fehlt an vielen Stellen das Verständnis für die Handlungsweisen der Figuren. Außerdem tummeln sich in diesem Buch zu viele unerklärliche Phänomene und paranormale Erscheinungen, die wie selbsterklärend wirken sollen. Die Bewohner von Comtosook scheinen sich jedenfalls nicht über Papageien zu wundern die plötzlich Edith-Piaf-Lieder singen oder über Kaffeemaschinen, die nur noch Limonade kochen. Als Leser wundert man sich um so mehr.