Brisantes Thema, nüchtern, detailliert und eindrücklich umgesetzt

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angie99 Avatar

Von

„This is reminiscent of another great transformation, from a culture of recording (what to record to leave for memory) to a culture of erasing (digital records everything, the question what to erase, like photographs on mobile phones).“ Luciano Floridi (S. 95)
Dieses Zitat bildet für mich den Kern des Romans „Zeiten der Langeweile“ ab: Vom Aufnehmen zum Löschen. Wie viel bleibt von mir, wenn ich im Internet nicht mehr existiere? Funktioniert das überhaupt – sich aus den digitalen Medien zu löschen?

Kennzeichnend für die absolut aktuelle, relevante Thematik steht dieses Zitat über Teil 2 dieses in drei unterschiedlich große Teile gegliederten 240-Seiters.
Dass es drei Teile sind, ist kein Zufall, denn Ich-Erzählerin Mila hat sich in ihrer Dissertation auf „Heldinnenreisen in der Populärkultur“ spezialisiert und fragt sich gegen Ende des Buches, ob sie sich gerade selbst auf einer solchen Heldenreise in drei Akten befindet. „Die Heldinnen bewiesen an dieser Stelle, dass sie sich weiterentwickelt hatten. Erfolgreiche Überwindung hieß in den Geschichten: ‚Eine innere Konfrontation individueller Ängste, um Selbstliebe und Selbstakzeptanz zu erlangen.‘“ (S. 237) – Ob dies auch auf sie zutrifft?

Ein knappes Jahr zuvor hat Mila beschlossen, ihre digitalen Spuren im Internet zu löschen, aus Angst davor, irgendwann gecancelt zu werden. „Niemand wusste, zu welchem Zeitpunkt verschiedene Daten und Infos von mir oder über mich zu einem Ball des öffentlichen Interesses zusammenschmelzen könnten und ich in einem digitalen Inferno gelyncht werden würde. Es war die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor dem Urteil der anderen.“ (S. 14)
Was mit dem Löschen ihrer Social-Media-Profile anfängt, weitet sich bald zu kompletten Digital Detox aus – um sich zu einer Phobie vor jeglichen Geräten, die Fotos aufnehmen und verbreiten können, zu entwickeln.

Minutiös gibt Debütautorin Jenifer Becker Einblick in Milas sich veränderndes Leben: Kontakte zu halten ohne Social Media wird schwierig bis unmöglich, aber die Verkomplizierung betrifft bald auch alltägliche Verrichtungen, für die man sich ins Internet einwählen muss.

Ihr Schreibstil ist sehr nüchtern, beinahe emotionslos und hat eher die Form eines ausschweifenden Berichts als eines Romanes im eigentlichen Sinne.
Der fehlende Spannungsbogen wird garantiert manche*n Leser*in abschrecken, doch nach meiner anfänglichen Befürchtung, dass die Lektüre selbst zu einer „Zeit der Langeweile“ werden würde, hat sich nicht bestätigt. Ja, es zieht sich, es ist ab und zu anstrengend, Mila in die engsten Winkel ihres Daseins zu begleiten – aber die weitere Entwicklung dieses Digital-Detox-Experiments hat mich trotzdem interessiert weiterlesen lassen.
Der Text ist gespickt mit (unerklärten) Bezeichnungen, Verweisen, Markennamen und Abkürzungen, wie sie für die hippe, aufgeklärte, instagramtaugliche Generation Y typisch sind, den Lesefluss aber in meinem Fall (minimal älter und weniger akademisch) besonders zu Beginn doch ein bisschen gestört haben. Deshalb: wer sich in der modernen Popkultur völlig fremd fühlt, wird sich mit Mila und ihrem Lifestyle – und damit auch diesem Buch – nicht anfreunden.
Auch ist Mila selbst ein ziemlich opaker und melancholischer Charakter, ihre nächsten Schritte sind zwar von logischer Dynamik, aber aus rein menschlicher Sicht eben doch nicht immer nachvollziehbar.

Der depressive Grundton hat denn in meiner Bewertung auch den fünften Stern genommen; besonders erbaulich ist die Lektüre leider nicht.
Sehr empfehlenswert aber trotzdem.
Denn die intelligente Struktur und der informative Gehalt des Werkes haben mich überzeugt. Sogar das Ende, das anscheinend so offen und unklar daherkommt und mich im ersten Moment total enttäuscht hat, fand ich nach längerem Überlegen grenzgenial.

Auf jeden Fall ist „Zeiten der Langeweile“ keine heitere Unterhaltungsliteratur, sondern ein forderndes Werk, das es in sich hat. Aber dementsprechend auch Nachhall, viele Gedankenanstöße und ungeheures Diskussionspotenzial zum Umgang mit digitalen Medien erzeugt.