Der Blick in diesen Spiegel könnte einem nicht gefallen.

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Kurzmeinung: Bittere Wahrheiten
Die Leser begleiten Mila, eine junge Frau, die beschlossen hat, aus dem digitalen Leben auszusteigen durch verschiedene Stadien ihrer Versuche, nicht mehr vom WorldWideWeb erfasst zu werden. Sie will in Zukunft netzmässig anonym sein. Kann dieses Unterfangen gelingen?

Der Kommentar:
Der Roman „Zeiten der Langeweile“ ist witzig geschrieben und mit dem gängigen modernen Digitalvokabular versehen.
Milas Bemühungen, ihre Person der Verfügbarkeit des Netzes zu entreißen, zeigt eines: es ist nicht so leicht. Denn so einfach man sich registrieren lassen kann, so schwierig ist es mit der Rückgängigmachung, zumal die einmal preisgegebenen Datenmengen ein Eigenleben entwickeln und sich exponentiell verbreiten.
Mila entwöhnt sich nach und nach. Es ist ein Prozess, in den die Leser mit hineingenommen werden und währenddessen erkennen, wie involviert man sein kann. Wir sind längst da, wo Mila sich befindet. Apps zählen die Kalorien, die wir zu uns nehmen, ohne GPS finden wir uns nicht mehr zurecht, am kulturellen Leben (eigentlich am ganzen Leben) kann man nur noch mittels Smartphones und Laptops teilnehmen, Kartenzahlungen registrieren unser Kaufverhalten. Dein Leben, lieber Leser, ist bis ins kleinste Detail ein aufgeschlagenes öffentliches Buch! So lange du Mainstream bist, ist das alles kein Problem, aber wehe, wenn nicht. Wenn man ausschert, fällt man auf. Dann kann alles Mögliche passieren.
Da Mila als Kulturwissenschaftlerin an der Welt interessiert ist, erhebt sich weiterhin für sie die Frage, woher sie nach Abschaltung des Digitalen ihre Medien/Informationen bezieht und wie sie es vermeiden kann, neue Spuren zu hinterlassen, womöglich unfreiwillig, nämlich durch die extensive Nutzung der Medien durch andere User, man kann sie fotografieren, und sei es nur als Hintergrund in einem Selfie - man könnte sie dadurch in Bilderkennungssoftwares identifizieren, etc.
Um sich auch davor zu schützen, meidet Mila öffentliche Veranstaltungen. Dabei bemerkt sie, dass der moderne Mensch auch in vermeintlich unauffälligen Spots und Events bereits Datamaterial ist. Überall gibt es Videokameras und selbst, wenn man sich in ganz und gar in scheinbar uneinsichtigen Areals aufhält, besteht immer noch die Möglichkeit, von der Kamera einer Drohne erfasst zu werden.
Die Erfahrung, die Mila leider machen muss, ist die, dass ein Entkommen unmöglich ist, selbst wenn man bereit wäre, dafür erhebliche Opfer zu bringen. So gilt Mila unter ihren Freunden als Nerd; unfreiwillig wird sie in die Nähe ultrarechter Gruppierungen gerückt. Jemand, der nicht dazugehören will, ist verdächtig, ein Spinner oder ist psychisch krank. So empfindet es überwiegend auch die Leserunde, in der ich das Buch gelesen habe. Einen Job, indem sie digital nicht in Erscheinung tritt, ist auch nicht an Land zu ziehen.

Der Roman ist keine Hochliteratur, wahrlich, obwohl zügig geschrieben und ohne sprachliche Ausreißer nach unten, jedoch mit modern technischem Sprachjargon versehen und häufig ironisch und witzig. Sprachlich ist Jenifer Beckers Roman „Zeiten der Langeweile“ also nur durchschnittlich zu bewerten: dennoch ist das Debüt von Jenifer Becker hervorragend, denn ihr Roman ist ein Spiegel der Gesellschaft.

Wie sind wir nur da hinein geraten? Sehenden Auges sogar. Hineingeraten in die Datenfalle, in die vollkommene Abhängigkeit von Großkonzernen, die die Apps etc. zur Verfügung stellen, die aber im Gegenzug alles von dir wissen, Mila zählt netterweise einige unappetitliche Bilder auf, die von ihr im Netz kursierten, manche absichtlich preisgegeben manche durchaus nicht, und man hat sofort diverses Datenmopping vor Augen.
Sicher, Jenifer Becker reichert ihren Roman mit unterhaltsamen Details an, die Vereinsamung Milas, ihre Verwahrlosung, ihre (scheinbare) Paranoia. Aber letztlich zeigt sie uns doch nur: Tue nicht so entrüstet, denn das bist du. Mehr oder weniger. Wahrscheinlich eher mehr. Willst du das? Wir als Gesellschaft wollen es wohl: denn es ist so bequem.

Fazit: Es ist ein erschreckendes Bild, das uns Jenifer Becker vor Augen hält. In seiner Absurdität ist das absurdeste daran, dass es wahr ist: Es gibt kein Entkommen. Und noch schlimmer: wir wollen es (mehrheitlich) nicht einmal.

Kategorie: Gegenwartsliteratur
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag, 2023