Die Abkehr des Digitalen

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lesestress Avatar

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„Der Button _Konto löschen_ löste ein tiefgreifendes Gefühl geisterhafter FOMO in mir aus, obwohl ich seit Monaten auf keiner Party gewesen war und mir keine einzige digitale Live-Ausstellungseröffnung angeschaut hatte. Ich sagte mir, dass es nur vorübergehend sein würde. Eine Art Detox: sich einmal aus dem System rausnehmen, Süchte lokalisieren, klarer benennen können, danach wieder gemäßigter mit dem Stoff umgehen – ein Real-Life-Reset.“

Mila, 30, geht offline. Zu groß ist plötzlich die Angst vor der öffentlichen Sichtbarkeit. Jede gelöschte Spur im Netz ist ein Akt ihrer Befreiung, gleichzeitig gelingt es ihr aber nicht, sich einzureden, dass die neue Yogaroutine erfüllender ist als der morgendliche Smartphonecheck. Die nostalgisch wiederentdeckte Langeweile wird schnell zu tiefer Einsamkeit. Sie teilt ihr Leben nicht mehr, aber auch niemand teilt es jetzt so richtig mit ihr. Ihr Drang, den schwerelosen Zustand vollkommenen Verschwindens zu erreichen, wird mit jedem Tag des Digital Detox obsessiver und extremer. Wie kann ein analoger Mensch inmitten einer digitalen Welt leben?

Jennifer Becker erzählt in „Zeiten der Langeweile“ in drei Teilen – und damit in drei Extremen – von der Abkehr alles Digitalen. Protagonistin Mila propagiert darin einen Akt der Selbstbefreiung und proklamiert ihr Recht auf Vergessenwerden, weg von digitaler Ausbeutung sowie Manipulation – wie sie glaubt. Doch der Weg, der als Experiment auf Zeit beginnt, führt sie eher an sich selbst vorbei, hinein in tiefe Einsamkeit, soziale Entfremdung und Isolation. Ihre Gedanken zu diesem Ausstieg entwickeln sich von kritisch zu toxisch – ein Psychogramm im Kleinen, das seiner Protagonistin alles abverlangt und sie nach und nach alles verlieren lässt. Der „gläserne Mensch“ ist in vielen Belangen ein Problem, das Becker in all seinen Facetten aufzeigt – und doch blieb ich am Ende mit der Frage zurück, ob das Leben als Digital Outsider wirklich vorzuziehen ist. In diesen Text ergießen sich sehr kluge Gedanken, die mich, ob der ausgiebigen Nutzung des Internets und der Sozialen Medien, wirklich nachdenklich gemacht haben. Leseempfehlung!