Leben ohne Netz

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roomwithabook Avatar

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Haben wir uns das nicht alle schon mal gewünscht: eine Zeitlang ohne Internet zu leben, ohne Social Media und andere Zeitfresser? Mila plant anfangs genau das, eine Zeitlang ohne digitale Ablenkung, doch nachdem sie sich im Oktober 2021 langsam aus dem Netz verabschiedet und echte Langeweile wiederentdeckt, passiert etwas mit ihr. Sie will mehr, oder besser gesagt weniger, löscht alle Apps, erlaubt sich nur kurze Zeitfenster, um die Mails zu checken, und stellt dann fest, dass ihr soziales Leben quasi zum Erliegen kommt. Denn wer ist man noch, wenn man nichts mehr mit anderen teilt? Statt jedoch zu einem reduzierten, gesünderen Umgang zurückzufinden, wird sie immer obsessiver und verliert langsam die Bodenhaftung. Wir begleiten sie auf dem Weg in eine mögliche Psychose, und Jenifer Becker beschreibt dies so geschickt, dass nie ganz klar ist, ob alles nur in Milas Kopf passiert oder nicht. Den Grundgedanken des Romans fand ich durchaus spannend, denn Becker zeigt, wie schmal der Grad zwischen reflektiertem und obsessivem Handeln ist und wie sehr sich alle Obsessionen gleichen, denn auch wenn Milas Bruder scheinbar eine ganz andere Richtung einschlägt und sich im Netz in Verschwörungstheorien und Angst vor der Coronaimpfung verliert, teilt er doch viele Wesensmerkmale mit seiner Schwester. Leider hat mich der Roman in der Mitte etwas verloren, da er über lange Strecken nicht über eine Beschreibung von Milas Tagesablauf hinausgeht. Und der ist denkbar trist, wir erinnern uns sicher alle noch an die Zeit des Lockdowns, in der der tägliche Spaziergang schon das Highlight darstellte. Ich mochte die konkrete zeitliche Einordnung und die kulturellen Bezüge, auch Milas diffuse Angst vor dem Gecanceltwerden war nachvollziehbar beschrieben, trotzdem habe ich mich über den Mittelteil etwas mit ihr mitgelangweilt. Irgendwann nimmt die Geschichte dann wieder etwas Fahrt auf, es gibt sogar The-Circle-Vibes und das Ende ist offen genug für verschiedene Interpretationsansätze. Denn wer weiß, vielleicht sind es ja wir, die die Zusammenhänge nicht verstehen …
Trotz der erwähnten Längen bietet der Roman ein interessantes Gedankenexperiment, das aber hier und da etwas mehr Tiefe vertragen hätte. Aber Stoff für Diskussionen bietet er allemal, und gerade das Ende ist mir durchaus im Gedächtnis geblieben.