Verstörender Sog der Konsequenz

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merkurina Avatar

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Eins vorweg: Dieses Buch gehört zu den Büchern, bei denen ich schlussendlich sehr froh war, sie gelesen zu haben. Ein Buch, das mir sicher im Gedächtnis bleiben wird. Weil es ein sehr außergewöhnliches Buch ist, das ganz neue Blickwinkel aufreißt, Normalität mit harten Schnitten durchbricht. Anfangs und streckenweise fand ich das Buch etwas ... ja: langweilig, zumindest fast ... aber es entwickelte für mich einen Sog der Konsequenz. Und der Verstörung.

To be honest: Das anfängliche Motiv der Protagonistin Mila, jegliche Spur von sich im Internet löschen zu wollen, wurde mir nicht wirklich klar. Das heißt, als logisches Motiv kann man es vielleicht verstehen, aber die psychische Situation, die zur hyperkonsequenten Entscheidung führt, bleibt offen. Dafür wird systematisch gezeigt, dass es gar nicht geht. Dass es nämlich geradezu unmöglich ist, ohne die Technologien zu existieren, die es vor 30 Jahren noch fast gar nicht als alltagsmächtige gab (und die Menschen haben auch irgendwie existiert). Heute scheint man wirklich weder im Straßenverkehr noch im Geldverkehr noch beim Wunsch nach Geschlechtsverkehr zurecht kommen zu können ohne www und smartphone.

Ich habe als Person, die noch die Zeit vor dem Internet kennt, erst kürzlich realisiert, dass heutige junge Menschen anscheinend (???) wirklich überwiegend über tinder&co daten. Ich wusste das nicht, ich kann mir das auch gar nicht vorstellen, was nicht heißt, dass ich es nicht gerade genauso machen würde, wenn ich heute 30 wäre. Im Grunde weiß ich über den digitalen Konsum heute 20- bis 30igjähriger: wenig bis nichts.
Jenifer Beckers Figur Mila kommt mir - auch aufgrund ihrer beruflichen Orientierung, andererseits: machen heute nicht alle was mit Medien? - recht exzessiv vor mit ihrer Mediennutzung, die sie beenden will. Paranoid wirkt sie auch. Und einsam. Eine Einsamkeit, die tatsächlich mit dem smartphone wohl übertünchbar war, erst recht während der Pandemie.
Der moderne Mensch fühlt sich - wenn er den Blick so fokussiert wie Mila es macht - absolut bedroht und kann gar nicht genug "aufräumen". Und auch wenn Gregor, der sich als Frankfurter-Schule-Oberlehrer bei Mila anbiedern will, ihr erst recht mächtig auf die Nerven geht, was ich verstehen kann: Adornos Satz "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen" führt dieses Buch konsequent vor. Und noch schlimmer: Wer versucht, es zu finden, kann eigentlich nur vor die Hunde gehen.