Judith, die Cleanerin

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naraya Avatar

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Judith Kepler hat einen Beruf, für den nur wenige Menschen gemacht sind. Sie wird immer dann gerufen, wenn an einem Tatort die Spuren des Todes allzu deutlich bleiben, auch dann, wenn die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin schon lange fort sind. Denn Judith Kepler ist Cleanerin, das heißt, sie reinigt Orte, an denen Menschen gestorben sind. Sie erträgt den Gestank in den Wohnungen, die Blutlachen, die Maden und dank ihr wissen wir nun auch, dass Gehirnmasse zu kleinen weißen Krümeln wird, wenn sie trocknet. All das lässt Judith nicht an sich heran, so sagt sie zumindest. Sie hat es im Leben noch nie leicht gehabt; als Kind einer Prostituierten, ins Heim abgeschoben und nach dem Tod der Mutter dort 10 Jahre geblieben. Nach vielen verschiedenen Jobs und Beziehungen, nach einer Zeit voller Drogen und Medikamente ist sie schließlich dort angelangt, wo sie heute ist. In ihrem Beruf als Cleanerin, ohne Freunde oder sonstige Bezugspersonen, wenn man von ihrem Chef Dombrowski und dem neuen Praktikanten Kai absieht.

Doch eines Tages wird Judith durch Zufall an einen Tatort gerufen, an dem ihr vieles so seltsam bekannt vorkommt. Am Ende des Auftrags fällt ihr die Post der Toten in die Hände, in der sie ihre eigene Heimakte findet. Judith muss auf einmal erfahren, dass sie nicht Judith Kepler, sondern Christina Sonnenberg heißt und ihre gesamte Vergangenheit eine Lüge zu sein scheint. Auf eigene Faust macht sich die Cleanerin an die Ermittlungen und gerät dabei immer tiefe in politische Verstrickungen.

Ich muss zugeben, nachdem ich die Leseprobe zum Roman gelesen hatte, habe ich ein ganz anderes Buch erwartet. Es klang für mich sehr spannend und positiv, einen Krimi aus der Perspektive einer Cleanerin zu erzählen, nachdem es ja in den letzten Jahren vermehrt Romane aus der Gerichtsmedizin gab. Doch wer denkt, dass er in "Zeugin der Toten" mehr über diese unliebsame Arbeit und die Menschen, die sich verrichten, erfährt - der wird nur wenig fündig. Die Handlung geht zu Beginn nur schleppend voran und der Roman entwickelt sich immer mehr zu einem Spionageroman, dessen Handlung ich ohne Hintergrundwissen nicht vollständig folgen konnte.

Unrealistisch erscheint mir auch, wie die Autorin ihre Protagonistin in bester James Bond-Manier durch die unwegsamsten, gefährlichsten Situationen schickt. Judith Kepler kann nicht nur Blut sehen und Hirnmasse von Linoleum entfernen, nein, sie stellt einen Spion beim Versuch, eine Wanze anzubringen, beschattet und belauscht Personen, ermittelt auf eigene Faust, liefert sich wilde Verfolgungsjagden, zertrümmert Grabsteine und erschießt Menschen. Die Cleanerin ist im wahrsten Sinn des Wortes "nicht tot zu kriegen" und hält - meiner Meinung nach - für einen "normalen" Bürger einfach zu viel aus. Um noch ein weiteres Klischee zu erfüllen, liest die "ungebildete Putzfrau" natürlich noch Tolstoi und Hesse und die Liebe darf auch nicht fehlen.

Trotz zahlreicher Kritikpunkte schafft es die Autorin allerdings, eine solche Spannung aufzubauen, dass man als Leser unbedingt wissen will, wie sich alles auflösen wird. Man leidet mit Judith mit, die doch eigentlich nur wissen will, wer sie wirklich ist, wer ihre Eltern waren und wo ihre Wurzeln liegen. Ob ihr das am Ende die gewünschte Ruhe bringt, das wage ich zu bezweifeln, aber der Schluss lässt ja doch einigen Spielraum für Spekulationen.