Unsere düstere Vergangenheit

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kleinfriedelchen Avatar

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Judith übt einen Beruf aus, den sicherlich nicht jeder machen würde: sie ist eine Cleanerin, jemand, der Wohnungen wieder auf Vordermann bringt, in denen ein Mensch verstorben ist. Sie macht ihren Job gut, bis sie eines Tages in der Wohnung einer ermordeten Frau eine Akte findet - eine Kinderheimakte über sich selbst, Judith. Nur heißt sie laut der gar nicht Judith, sondern Christel Sonnenberg. Was hat das zu bedeuten? Und warum hatte die Tote ihre Akte? Was interessierte sie an Judiths Vergangenheit? Und warum wurde sie ermordet? Judith macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, nach dem Mörder der Frau und ihrer eigenen Vergangenheit. Und gerät so selbst ins Visier der Verbrecher...

Ich habe ziemlich schnell beim Lesen festgestellt, dass ich eine falsche Vorstellung von diesem Buch hatte. Also habe ich meine Erwartungen über Bord geworfen und mich überraschen lassen.

Judith ist ein interessanter Charakter. Als Kind einer Prostituierten und nach deren Tod jahrelang im Heim aufgewachsen, hat sie Probleme mit Nähe und so schon einige gescheiterte Beziehungen und Drogenprobleme hinter sich. Abgesehen von ihrem Chef hat sie eigentlich keine Vertrauten. So verbirgt sie sich hinter einer harten Schale, aber es ist klar, dass dahinter eine verletzliche Seele liegt. Gerade ihr komplexer Charakter ließ Judith sehr authentisch rüberkommen. Und auch mit den restlichen Charakteren hat die Autorin nicht gegeizt, man wird anfangs quasi überflutet von der Vielzahl an Personen. Hier heißt es, nicht den Überblick verlieren und weiterlesen, es lohnt sich.

Wer einen dramatischen Thriller mit rasanter Action aus der unüblichen Sicht einer Cleanerin erwartet, der dürfte etwas enttäuscht werden. Stattdessen liefert uns Herrmann eine gut konstruierte Kriminalgeschichte über die deutsch-deutsche Vergangenheit, voll von Spionage, Agenten der Stasi, des BND und den Machtkämpfen zwischen den Geheimdiensten. Zwischendurch gibt es immer wieder Rückblicke ins Jahr 1985, die das Bild langsam klären und die Geschichte verdichten. Dabei deckt die Autorin einige unschöne Wahrheiten über die Machenschaften der Geheimdienste auf. Und die sind keinesfalls fiktiv. Herrmann hat bei der Recherche für dieses Buch Archive durchforstet und mit Journalisten, Professoren und Privatpersonen geredet.

Aufgrund der vielen Verwicklungen und Personen muss man schon Geduld und Aufmerksamkeit beim Lesen aufbringen, um nicht durcheinander zu kommen; fürs Zwischendurch-Lesen ist das Buch daher eher nicht geeignet. Aber die Geschichte lohnt sich, auch wenn ich ursprünglich etwas anderes erwartet habe. Sie ist gut durchdacht und spannend und hat mir einige interessante, wenn auch erschreckende Einblicke in die jüngere deutsche Vergangenheit beschert. Herrmann ist auf jeden Fall eine begabte Schriftstellerin, von der ich gerne mehr lesen werde.