Auf so vielen Ebenen spannend

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madame klappentext Avatar

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Eine Welt ohne wilde Tiere, weder an Land in der Luft oder im Wasser. Das ist die Realität, mit der sich Franny konfrontiert sieht. Einzig und allein einen Schwarm Küstenseeschwalben lebt noch in Grönland und steht kurz davor zu seiner letzten Reise Richtung Süden aufzubrechen. Kann Franny diesen Vögeln folgen und mit deren Hilfe vielleicht auch noch die letzten Fische in Ozean ausfindig machen?

Es beginnt das große Abenteuer, bei dem es um viel mehr geht, als nur wilde Vögel. Verlässlichkeit und Freundschaften sind Pfeiler auf die Franny nun bauen muss, auch wenn ihr Leben bisher alles andere als geradlinig und stabil war. Franny folgt den Vögeln und begibt sich damit auf die Suche nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens.

Schon seit einiger Zeit habe ich ein Faible für Bücher, in denen die Natur eine wichtige Rolle spielt und so haben auch die Zugvögel mein Interesse geweckt. Tja, was soll ich sagen? Ich wurde nicht enttäuscht. Die Story hat so viele wichtige Ebenen, dass es mir schwer fällt, allen gerecht zu werden. Zum einen sind da natürlich die letzten wilden Tiere auf dieser Erde, zum anderen ist der Roman aber auch eine Familien- und Liebesgeschichte.
Eine Welt ohne wilde Tiere ist eine grausame Vorstellung. Kein Vogelgezwitscher, kein Geraschel im Unterholz. Alles wird vom Mensch bestimmt, weil er durch seine Kurzsichtigkeit alles um sich herum zerstört hat. An dieser Stelle kann man nur an alle appellieren, behutsamer mit unserer Erde umzugehen. Dieser Satz mag abgedroschen klingen, aber ich wünsche mir wirklich, dass Frannys Welt Fiktion bleibt. Genau dieser vermeintlich kurze Schritt zwischen unserer aktuellen Realität und Frannys Welt, erzeugt eine große Spannung und konfrontiert die Leser*innen auch mit einigen Fragen: Wie weit würde ich gehen, um die Tierwelt zu schützen? Welche Rolle spiele ich ganz persönlich im Artensterben? Denn eines ist klar, nach diesem Buch kann man nicht einfach mit den Fingern auf andere zeigen und jegliche Schuld von sich weisen. Jede*r einzelne trägt eine Verantwortung für das, was mit unserer aller Umwelt passiert.

Trotz aller Spiegel, die einem vorgehalten werden - und das sind bei Weitem nicht wenige - kommt an keiner Stelle des Buches ein moralischer Zeigefinger zum Vorschein. Wahrscheinlich auch, weil die Geschichte aus Frannys Sicht erzählt wird. Sie ist viel zu reflektiert und weiß, dass kein Mensch perfekt ist, als dass sie anderen mit moralischen Vorträgen kommt. Sie ist eine vielschichtige Person, der man sich nur sehr langsam nähert und deren gebrochene Biografie im Nachhinein viele ihrer abenteuerlichen Unternehmungen erklärt. Keinesfalls hat sie nur positive Eigenschaften. Sie ist mutig, verletzlich und loyal, aber auch unglaublich stur und in weiten Teilen auch unfreiwillig egoistisch und unnahbar. All das macht sie aber in erster Linie menschlich und das gefällt mir so an ihr und ihrer Lebensgeschichte. Die Entwicklung, die sie nimmt ist authentisch, was mich dazu bewogen hat, mit viel Neugier durch ihre Geschichte zu streifen. Überhaupt sind alle Charaktere des Romans toll gezeichnete Figuren, von denen nicht eine von vornherein durchschaubar ist. Sie alle haben ein bewegtes Leben hinter sich, ob nun auf hoher See, wie die Besatzung der Shanghai, mit der Franny den Küstenseeschwalben folgt, oder ihre Familie an Land, die sich durch viele Schicksalsschläge kämpfen musste. Alle sind vom Leben gezeichnet und prägen Franny auf ganz unterschiedliche Weise.

Den größten Stellenwert nimmt wahrscheinlich Niall ein. Seine Figur trägt dazu bei, dass der Roman auch eine wundervolle Liebesgeschichte ist. Dabei kann ich nicht mal recht sagen, ob die Liebesgeschichte voller Kitsch ist, oder eben gerade nicht. Wie so vieles in der Geschichte kann man auch diesen Aspekt in keine Schublade stecken. 

Die Erzählstruktur ist ebenfalls besonders. Man wird ständig zwischen der Gegenwart und verschiedenen Zeiten der Vergangenheit hin und her geworfen. Erst nach und nach ergibt sich das ganze Bild, mit all seinen Überraschungen. Die Spannung bleibt so permanent hoch, schließlich merkt man schnell, dass man noch lange nicht alles über Franny weiß. Zudem ist man geneigt, einge Informationen zunächt falsch zu deuten (zumindet habe ich das getan) und staunt dann nicht schlecht, wenn man die kompletten Ereignisse kennt. 


Dieser Roman steckt voller liebenswerten, kauzigen und einzigartigen Charakteren, dass ich mich wirklich nur schwer entscheiden kann. Niall habe ich bereits erwähnt, aber er ist alles andere als ein Nebencharakter. Lea, ein Mitglied der Besatzung ist mir besonders in Erinnerung geblieben, da sie sich treu bleibt und gleichzeitig mit ihren Entscheidungen über sich hinauswächst. Ich ziehe den Hut vor ihr, genau wie vor allen anderen Besatzungsmitgliedern der Shanghai. 

Aber auch Penny, Nialls Mutter will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Sie ist auf der einen Seite eine der unsympatischsten Figuren, die mir im Roman begegnet ist und auf der anderen Seite besticht sie durch ihre Haltung und Aufrichtigkeit. 

Lest einfach selbst und macht euch ein eigenes Bild über die vielen großartigen Figuren, die im Roman auftauchen. Für mich ist die Charakterzeichnung aller ein ganz großes Plus. 


Zugvögel ist viel mehr als nur ein Roman über eben diese Tiere. Es geht um unsere Umwelt, um Familie, Herkunft, Zugehörigkeit, Verantwortung, Loyalität und Liebe. Dafür bildet die Reise der Zugvögel einen perfekten Rahmen. Sie sind das Motiv, dass sich durch alle Ebenen des Romans zieht. Sie begleiten sowohl die Protagonistin als auch die Leser*innen auf ihren Weg nach dem Sinn des Lebens.

Ein tolles Buch, das so viele verschiedene Ebenen besitzt, dass sich nur schwerlich alles in einer Rezension unterbekommen lässt. Eines ist aber sicher, man trifft auf differenziert gezeichnete Charaktere, die alle vom Leben gezeichnet sind und auf eine Hauptfigur, die ihre Geheimnisse der Vergangenheit nur nach und nach preis gibt. Ein Buch, dass zum Nachdenken über das eigene Handeln anregt, ohne belehrend zu sein. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.