Ein grenzenloses Buch

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"Wie ungerecht das ist, ein Geschöpf sein zu müssen, das lieben, aber nicht bleiben kann."

Franny hat ihr ganzes Leben am Meer verbracht, mal an der Küste Irlands, mal in Australien - wo sie das Leben eben hingespült hat. Als nach und nach die Vögel von der Erde verschwinden, beschließt sie, den letzten Küstenseeschwalben auf ihrem Zug in die Antarktis zu folgen. Zusammen mit der exzentrischen Crew eines der letzten Fischerboote macht sie sich auf dem Weg, um ihre Verwandten, die Zugvögel, zu begleiten - und am Ende vielleicht Erlösung von ihrer tragischen Vergangenheit zu finden.

Es ist nicht leicht, für "Zugvögel" adäquate Worte zu finden, die beschreiben, was die Lektüre bei mir ausgelöst hat. Kurzum: In meinen Augen handelt es sich hierbei um ein Meisterwerk. Auf eine solche Geschichte war ich nicht im Mindesten vorbereitet, als ich unbedarft in den Roman gestartet bin. Ich dachte, es handle sich bestimmt wieder mal um die Selbstfindungsgeschichte einer Protagonistin mit mäßig interessanter Vergangenheit. Doch weit gefehlt.

McConaghys Erstling ist durchzogen von einem Hauch Mystik, einer Märchenhaftigkeit, die sich weder greifen noch erklären lässt, und die dem Buch ein Spiel mit der Realität ermöglicht, das man anderen Romanen nicht abkaufen würde. Wie kann Franny so lang im eiskalten Wasser schwimmen? Wie kann es sein, dass zwei Menschen heiraten, ohne vorher mehr als drei Worte miteinander gewechselt zu haben? Wie kann Franny so grenzenlos wandern, ohne jemals von ihren eigenen Gedanken gefesselt zu werden? Bilder wie ein Kuss in der Vogelvolière, ein Krähenschwarm, der einem kleinen Mädchen folgt, und ein auftauchender Wal inmitten einer verheerten Umwelt lassen einen nicht mehr so schnell los. Auch die Namen und Symbole sprechen für sich: das Fischerboot heißt Saghani (Rabe), eine Yacht, die sie später benutzen, trägt den Namen Sterna paradisaea (Küstenseeschwalbe), die Frau des freiheitssuchenden Käptens Ennis heißt Saoirse (irisch für Freiheit). McConaghys Sprache ist genau in dem Maße poetisch und anspruchsvoll, wie es dieser hochspanennden und -emotionalen Geschichte gerecht wird.

Der Roman spielt in einer nicht mehr allzu fernen und nicht unvorstellbaren Zukunft, in der wir wenig mehr erreicht haben, als die gesamte Tierwelt auszurotten. Sogar Krähen gibt es keine mehr, geschweige denn Wölfe, Elefanten oder andere wunderschöne Wildtiere. Die Fischerei liegt darnieder, es gibt nur noch wenige aktive Fischerboote, da es so gut wie keine Fische mehr gibt. Und auf einem dieser Boote heuert Franny an, um ihre Reise in den Süden anzutreten. Ennis, der kauzige Kapitän und Frannys Bruder im Geiste, und seine außergewöhnliche Crew sind wenig begeistert von dem Vorhaben, sie wollen Fische fangen, nicht Vögel jagen. Aber Franny gelingt es, diese beiden Sehnsüchte zu verbinden, und sie erarbeitet sich die Wertschätzung dieser merkwürdigen Menschen hart. Jeden schließt man irgendwie in sein Herz, und McConaghy erklärt die Beweggründe dieser Menschen mit so viel Realitätssinn und so wenig Pathos, dass sie einem wie Gestalten aus Fleisch und Blut erscheinen.

Neben der Handlung in der Gegenwart schwenkt die Erzählung immer wieder zu verschiedenen Stationen in Frannys Gegenwart. Als klassisches Mittel der Spannungserzeugung eignen sich diese Rückblenden auch in diesem Roman, doch McConaghy gelingt es besser als so mancher anderen Autorin, dabei weder Verwirrung noch Frust aufkommen zu lassen. Man will Frannys Düsternis entschlüsseln; doch ihre Vergangenheit ist auch durchzogen von lichthellen Momenten, die Hoffnung machen, und ihr Mann Niall ist ihr Anker in einer unbeständigen (Gedanken-)Welt. Doch was ist geschehen, mit dieser Beziehung, mit Frannys Leben, was lauert da in der Vergangenheit? Es bleibt am Ende keine der zig Fragen offen, die Autorin verknüpft alle losen Fäden und schafft es sogar, ganz in Märchenmanier, ein unrealistisches aber zufriedenstellendes Happy End zu inszenieren. Zum Glück, will man da als Leserin sagen, denn wenn es für Franny nicht wenigstens ein bisschen Freude in der Zukunft gäbe, dann ließe sich ihre Vergangenheit noch schwerer aushalten.

"Zugvögel" ist ein Roman, der sich jeder Kategorisierung entzieht. Er ist Abenteuergeschichte, Umweltdystopie, Familiendrama und Märchen in einem. Doch klar ist: Dieses Buch hat sich einen Sonderstatus in meinem Bücherregal und in meinem Herzen verdient.