Unzähmbare Geschöpfe

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amara5 Avatar

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Franny ist Mitte Dreißig und hat neben ihrer tiefen Affinität zu Tieren eine dunkle Vergangenheit – ihre Mission in „Zugvögel“ ist es, den letzten verbliebenen Küstenseeschwalben auf ihrem weiten Zugweg in die Antarktis zu folgen – koste es, was es wolle. Das Setting des mystischen Romans spielt in einer möglichen, nahen Zukunft – fast alle Wildtiere sind ausgestorben, der Klimawandel hat den Großteil des Waldbestandes zerstört. Franny heuert auf einem der letzten Fischereiboote in Grönland an – die Besatzung rund um den geheimnisvollen Kapitän Ennis werden ihre Begleiter für die nächsten Monate Richtung Antarktis sein. Sie verspricht Ihnen einen großen Fischfang – etwas, was in den leergeraubten Meeren nur noch selten vorkommt.

Und so stürmisch diese Überfahrt wird, begleitet von Unfällen und kleineren Katastrophen, so aufgewirbelt wird auch Frannys emotionales Innenleben – in Rückblenden erfährt der Leser von ihren Traumata und psychischen Verwundungen, die bis heute nachwirken, und was sie an diesen gefährlichen Ort gebracht hat. Sie schreibt Briefe und denkt an die Zeit mit ihrem Ehemann Niall zurück, einem Professor und Ornithologen. Anfangs ist noch alles rätselhaft – warum sucht sie ihre Mutter? Was erwartet sie am Ende bei den Küstenseeschwalben? Wird sie Niall wiedersehen? Warum war sie im Gefängnis? Mystisch und stückchenweise taucht der Leser tief ein in die Psyche der jungen Frau und begleitet sie auf ihrem weiten Weg zur Heilung. Franny hat einen unbeugsamen Willen und die Kraft eines wilden Tiers – metaphorisch steht ihre getriebene Persönlichkeit zu dem am Aussterben bedrohten Zugvogel und fast könnte sie selbst ein Tier sein: Unzähmbar, wild, unsteuerbare Kräfte von außen – und seit ihrer Kindheit mit Wanderfüßen ausgestattet, nie kann sie lange an einem Ort weilen, muss immer weiterziehen.

Verträumt, poetisch, magisch, düster und bildgewaltig führt der Roman, der eine Mischung aus Klimafiktion, Abenteuer, Psychogramm, Märchen und Liebesgeschichte ist, der jungen (Drehbuch-)autorin Charlotte McConaghy durch dystopische Landschaften, Naturgewalten und seelischen Untergründen. An manchen Stellen war es mir etwas zu viel Dramatik und zu viele tragische Ereignisse für eine Person alleine, aber insgesamt hat mich der Debütroman tief berührt. Zudem hat er eine aufrüttelnde Kernaussage: Was wird aus uns, wenn wir ohne Tiere und Wälder auf der Erde zurückbleiben?

Der englische Originaltitel gefällt mir noch etwas besser und ich kann mir eine Verfilmung des Romans sehr gut vorstellen.

"Man kann die Wirkung eines Lebens an dem messen, was es gibt und hinterlässt, aber man kann sie auch an dem messen, was es der Welt wegnimmt " S. 151