Soviele Dinge mehr

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Die junge brasilianisch-britische Autorin Yara Rodrigues Fowler zeichnet in ihrem lyrisch kunstvoll komponierten Roman „Zwischen Himmel und Erde“ ein facettenreiches und empathisches Bild über eine tiefe Frauenfreundschaft, gespickt mit vielen klugen gesellschaftspolitischen Querverweisen und einer generationsübergreifenden, politischen Familiengeschichte. Dabei sticht vor allem der kreativ-experimentelle Schreibstil von Fowler hervor, den man als Leser mit etwas mehr Zeit und Geduld begegnen sollte, da auch eigene Interpretationen gefragt sind.

Der Haupterzählstrang geht dem Kennenlernen der Protagonistinnen Melissa und Catarina in Südlondon nach – Catarina kommt zum Promovieren aus ihrer Heimatstadt Olinda in Brasilien nach London und wohnt bei Melissa, die ebenso brasilianische Wurzeln hat und in einer Gruppe starker Frauen aufgewachsen ist. Stück für Stück legt Fowler das Seelen- und Alltagsleben der beiden Frauen offen mit viel Detailtreue für zwischenmenschliche Beziehungsgeflechte, Herkunftsfamilien und das dichte Beobachten von Städten und Menschen. Dabei schildert sie auch die aktuellen Probleme des modernen Lebens inmitten des neoliberalen Kapitalismus und legt den Finger in gesellschaftspolitische Wunden, während sie aufzeigt, wie ein alternatives Bild von Care-Arbeit innerhalb einer Familienstruktur aussehen kann: Melissa wurde von ihren unabhängigen „Adoptiv-Großmüttern“ mitgroßgezogen.

Anhand von Catarina geht Fowler präzise und szenisch dicht in der politischen Zeitleiste zurück sowie über den Atlantik: Ihr Großvater Vovó Lipo war ein bekannter linker Gouverneur in Brasilien mit bewegender Geschichte. Aufrüttelnd wird die brasilianische Geschichte von Protest, Revolution, Hoffnung, Diktatur und Gewalt aufgerollt – und die Autorin macht deutlich, dass sich dies immer wiederholen kann und die Demokratie stets in Gefahr ist. Atmosphärisch zeichnet sie die privaten Leben unter solchen politischen Bedingungen nach und wie Angst sowie Gefahr transgenerational weitergegeben werden.

Politische Unruhen in Brasilien und Großbritannien, Brexit, Militärdiktatur, Faschismus, kollektive Traumata, psychische Gesundheit, Rassismus, kulturelle Identität, Queerness und viele Dinge mehr – die vielversprechende Autorin Fowler packt viele Themen in ihren feinfühligen Roman und spielt mit einer vielschichtigen Prosa: Lieder, Gedichte, sich wiederholende Sätze und Gedanken ohne Satzzeichen, portugiesische Fragmente. Auf Dauer kann diese formell moderne und einfallsreiche Form anstrengen und verwirren, da einige Stränge offen gehalten werden und viele Zeit- und Ortswechsel eingeflochten sind. Aber wer sich darauf einlässt und der packenden Geschichte über politischen Aktivismus und den Auswirkungen von kollektiven Traumata und Gewalt folgt, wird tiefgreifend belohnt.