Ein besonderes Werk voller feministischer Gedanken - erzählerisch für mich zu distanziert

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nessabo Avatar

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Ganz ehrlich: Ich bin ziemlich überrascht, wie gut es mir im letzten Drittel doch noch gefallen hat! Es lohnt sich definitiv, an der Geschichte dranzubleiben, wenn mensch über den besonderen, eher kühlen Erzählstil hinwegsehen kann (oder ihn alternativ einfach mag).

Denn so spannend ich die Geschichte rund um eine frisch getrennte Frau in ihrer zweiten Lebenshälfte fand, kam ich mit der Erzählperspektive lange Zeit gar nicht klar. Im Endeffekt gibt es sogar drei wechselnde Erzählperspektiven: eine Erzählstimme, die fast schon reportagenhaft in der dritten Person über Jenny schreibt; die Briefe aus der Ich-Perspektive der Protagonistin und schließlich die Ajattaras, die wie eine Art innere Stimme mit und über Jenny sprechen.

Ich brauche wirklich Geschichten, die mich emotional aufnehmen. In denen ich die Protagonistin fühlen und ihr Leben ein kleines Stückchen mitleben kann. Und das schafft die Autorin durch ihre sehr kühle, distanzierte Sprache nicht. Wahrscheinlich war das auch nicht beabsichtigt und der Roman ist in jedem Fall sehr besonders, aber ich hatte damit wirklich große Schwierigkeiten. Besonders am Anfang habe ich ganze Passagen übersprungen, weil ich mich nicht auf den Text konzentrieren konnte.

Dabei stecken so wichtige Gedanken und auch echter feministischer Widerstand in dieser Geschichte! Besonders oft geht es natürlich um gesellschaftliche Ansprüche an explizit auch ältere Frauen, was eine in der Literatur noch immer unterrepräsentierte Gruppe ist. Doch die teils wütenden und provokanten Reflexionen der Protagonistin sind selten leicht greifbar. Oftmals stecken sie fast zwischen den Zeilen und da mir der sprachliche Stil so wenig zugesagt hat und zu distanziert war, habe ich die Gedanken nicht immer erfassen können.

Die Märchenfiguren sind eine so kreative Idee und konnten mich schlussendlich doch eher begeistern. Sie reden über ihre eigenen Leben, die schließlich zu Märchen umgedichtet wurden - mit dem Ziel, Mädchen und Frauen restriktive gesellschaftliche Normen zu vermitteln. Die Kapitel fand ich am Anfang noch wenig verständlich, aber nach einer Gewöhnungsphase habe ich an ihnen durchaus Gefallen gefunden. Die Autorin traut sich meiner Meinung nach wirklich etwas und geht mit viel Talent an die Kehrseite der Märchen heran. In meinem Kopf habe ich immer versucht, diese neuen Erzählungen mit den bekannten Märchen zu verknüpfen, was mir nicht oft gelungen ist. Ich bin aber davon überzeugt, dass es sowieso genau darum nicht gehen soll, sondern dass die Autorin damit aufzeigen möchte, dass Märchen wirklich völlig konstruiert und fern jeglicher Realität sind. Gleichzeitig wird aber auch ihre Macht deutlich: sie vermitteln klare Bilder über weibliche(s) Körper, Lust, Leben und Lieben.

Was mir auch sehr gut gefallen hat und was ich lobenswert erwähnen möchte, ist, dass die Autorin in ihrem Text über ein binäres Geschlechtersystem hinaus denkt. So erklärt sie bspw. ganz nebenbei, dass Geschlechtsteile nichts mit Geschlechtern zu tun haben.

Ein abschließendes Urteil oder gar eine Empfehlung fällt mir entsprechend sehr schwer. Zum Ende hin fand ich die Entwicklung der Hauptfigur richtig gut. Ihr Ausbrechen aus Strukturen, das gleichzeitig sehr ehrlich und nicht heroisch dargestellt wird, ist bemerkenswert und stark. Es wird wiederholt klar, dass es kein leichter Weg ist hin zum Überwinden patriarchaler Narrative, dass sich dieser Weg aber lohnt. Doch trotz meines positiveren Gefühls am Ende war das Werk mir persönlich einfach zu experimentell, zu dynamisch, zu emotional distanziert. Wer sprachliche Besonderheiten und eine ernsthafte Auseinandersetzung älterer Frauen mit ihrem patriarchal geprägten Umfeld sucht, hat hier wahrscheinlich mehr Freude.

2,5 ⭐️