Mutig und originell! Teilweise hart an der Schmerzgrenze!

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Minna Rytisalo ist eine finnische Autorin, die uns hier eine Frau Anfang Fünfzig sehr lebensnah und beinahe schmerzhaft realistisch präsentiert. Jenny Hill erfindet sich gerade neu. Nach der Trennung von ihrem notorisch fremdgehenden Mann stellt sie sich die Frage, was im Leben noch geht, was von Wert ist und wie sie der verbleibenden Zeit noch Sinn geben kann.
„Jenny ist momentan nicht in Bestform, und es ist auch nicht gerade hilfreich, dass sie zu wenig schläft, über Erinnerungen grübelt, ihre Lebensgeschichte rekapituliert, und all das nächtliche Herumwälzen hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass sie gehen muss, und deshalb sitzt sie jetzt im Taxi. Sie möchte glücklich sein und dass ihr Leben irgendwie einfacher und lockerer ist, sie möchte gut zu sich sein und sich selbst verstehen, so wird es überall geraten, aber das ist furchtbar schwierig in einer Welt, die einen Wunsch und einen Anspruch nach dem anderen hervorbringt, Ziele steckt und einen zur Anstrengung zwingt, so ist es ihr immer vorgekommen, seit jungen Jahren, und jetzt ist sie nach vielen Maßstäben alt.“
Begleitet wird sie im Geiste von den Ajattaras – bekannten Märchenfiguren, die ihre wahren Geschichten erzählen, die sich jeweils gänzlich von den bekannten tradierten Versionen unterscheidet. Im Klappentext wird dies humorvoll geschildert, doch für mich kam es kaum so rüber, sind doch alle Alternativen glaubwürdig und mit historischen Frauenbildern vergleichbar.
Tatsächlich ist „Zwischen zwei Leben“ ein Buch übers Frausein – und zu meiner Freude eines mit einer Protagonistin, die ihr Muttersein liebt, ja, darunter leidet nicht noch mehr Kinder gehabt zu haben – während die Vergleiche mit gleichaltrigen Männern stetig präsente Gegensätze zwischen den Geschlechtern offenbaren:
„Jenny verbrachte zahllose Nachtstunden … damit, bei Instagram das Profil eines italienischen Millionärs zu studieren… der sich auch Grandpa Playboy nennt, und bei diesem Namen hat Jenny geschmunzelt, ja, ein Mann darf sich ja wohl nennen, wie er will. … Der Opa hatte einen Labrador und hundert Tattoos … und Jenny hat sich gefragt, wie viele Frauen sich auf diesem Planeten wohl ihren eigenen Namen in ihre Haut einritzen lassen würden. Aber nein, so etwas würde niemand tun – nicht einmal Madonna oder Beyoncé. Vielleicht würde Rihanna es in Betracht ziehen. … Die Gefühle, die Jenny beim Anblick seiner bedrückt hatten: dass ein Mann altern und seine ledrige Hand auf die straffe Pobacke einer Zwanzigjährigen legen darf, als ob es ein Naturgesetz und die Ordnung der Welt wäre.“
Rytisalo beschreibt die Gedanken- und Gefühlswelt ihres Hauptcharakters beneidenswert klug und klarsichtig. Sie vermeidet offensichtliche Kniffe und Lösungen. Hier kommt kein weißer Ritter und rettet unsere Jenny Hill. Sie schafft das aus eigener Kraft mit dem Wissen, dass es in ihrer Ehe auch gute Zeiten und eine Verbindung gab, die nach dem Aus Bestand haben darf, auch wenn ihr übel mitgespielt wurde.
„Am nächsten Morgen probiert Jenny Hill in der Unterwäscheabteilung des Kaufhauses das teuerste Nachthemd von allen an. Mit diesem Kleidungsstück will sie sich niemandem nähern und auch niemandem ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen, und es ist auch nicht der erste Schritt in Richtung eines wilden Singlelebens, es ist eine erlernte Art, mit Sorgen und Enttäuschungen umzugehen.“
Für Finninnen der gleichen Generation dürfte der Roman eine schöne Zeitreise in die eigenen erlebten Jahrzehnte sein, den hier fließt auch viel Kulturelles und der Zeitgeist der vergangen 50 Jahre ein. Für mich als fast gleichaltrige Leserin war die Lektüre ein schmunzelnder Blick in den Spiegel, der zu mehr Weichheit im Umgang mit sich und seinen Lieben und zur Selbstfürsorge einlädt. Am Ende war das Buch mit meinen Post-it Lesemarkern gespickt und schon allein das spricht für sich selbst.
„Zwischen zwei Leben“ ist eine reife, kluge Auseinandersetzung mit dem Älterwerden, mit Feminismus, Geschlechterrollen, Lebenszielen und Selbstansprüchen – warmherzig und mit erfrischendem Zugang. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!