Wer bin ich ohne all die Regeln, Verpflichtungen und Vergleiche?
"Du hast nichts falsch gemacht. Du bist nicht falsch gewesen. Du bist nicht zu schüchtern, angespannt, bemüht oder unsicher gewesen, du bist genau so gewesen, wie du zu sein hattest."
Als Jenni Mäki nach vierundzwanzig Jahren ihren Mann Jussi verlässt, wird aus ihr nicht nur namentlich eine Neue, nämlich Jenny Hill. Auch in ihrem Inneren verschieben sich Welten, nach und nach öffnet sie sich ihrer eigenen Wahrnehmung, ihren Wünschen, Träumen und Sehnsüchten, und ein neues Leben beginnt. Begleitet wird sie dabei von den "Prinzessinnen" aus den Grimm'schen Märchen, die sie ermutigen, hinter die Geschichten zu schauen, die wir uns selbst erzählen.
In Minna Rytisalos neuem Roman habe ich mich von Anfang an wiedererkannt. Eine Frau, die sich trennt, eine eigene Wohnung bezieht, nach langen Beziehungsjahren jetzt erstmal wieder allein in der Welt ist. Und der Schock bleibt aus. Denn das Leben geht weiter, und tief in sich weiß Jenny, dass sie auch in ihrer Ehe allein war, viel mehr als jetzt, wo sie noch dazu wenigstens unabhängig ist. Und um Einsamkeit geht es überhaupt nicht in diesem Buch, sondern um das zärtliche, behutsame und schrittweise Hinterfragen alter Lebensnarrative, Muster und Gewohnheiten.
Wir lesen dabei abschnittsweise in Draufsicht auf Jenny und ihr neues Leben, dann wieder aus der Perspektive einer Grimm'schen "Prinzessin" - Dornröschen, Aschenputtel, Rotkäppchen, etc - und aus Jennys Innenperspektive, wenn sie Briefe an Brigitte Macron verfasst und ihr von ihrem Innenleben erzählt. Gerade diese Passagen wirken sehr eindringlich und erinnern stark an "Das verbotene Notizbuch" von Alba de Cespedes (welches die Autorin im Nachwort tatsächlich auch als Hintergrundliteratur nennt). Von den Märchenfiguren lernen wir, wie ihre jeweilige Geschichte wirklich ausgesehen hat - Geschichten voller fremdgesteuerter Frauenschicksale, die für die Märchenerzählung so aufbereitet wurden, dass sie kleinen Mädchen eine Lektion sind. Sei nicht zu schlau, aber auch nicht zu schön; andere Frauen sind primär deine Konkurrentinnen, oder sogar Feindinnen; lass dich nicht mit Männern ein, das verdirbt dich; die Macht über dich haben andere - Eltern, Ehemänner, Brüder. Und diese Figuren werden dann, in einem letzten perfiden Schritt unserer modernen Welt, durch Disney zu wunderschönen Prinzessinnen in traumhaften Kleidern, die von Prinzen gerettet werden. Was sich daraufhin die gesamte westliche Mädchenwelt als Idealbild einer romantischen Liebe abspeichert.
So auch Jenny, die natürlich nicht völlig unreflektiert ist, an der Rytisalo aber zeigt, in welche tiefen Schichten solche kulturellen Narrative eindringen. Jeder Blick auf eine andere Frau ist davon betroffen, jeder Blick auf das eigene Selbst, jede Art von Regeln, die wir uns auferlegen, um den ominösen anderen zu gefallen. Jenny ist eine gewöhnliche Frau in dieser Hinsicht - auf traurige, aber gewöhnliche Art gefangen in diesen Mustern. Die Ajattaras (= Märchenfiguren) zeigen uns immer wieder Ausschnitte aus Jennys Kindheit und Jugend, prägende Abschnitte, die bei Jenny Unsicherheiten, Verhaltens- und Gedankenmuster geprägt haben, und die jeder nachvollziehen kann, der mal jung war.
Und dann zeigen sie uns und Jenny Wege heraus aus diesen Mustern. Jenny tut den ersten Schritt, indem sie Jussi, den Betrüger, verlässt. Einfach so. Ohne Drama, ohne Krieg. Und von da an beginnt sie, ihr Leben neu wahrzunehmen. Es ist keine 180-Grad-Drehung, die hier passiert. Es sind kleine Dinge - sie setzt sich gegen ihren Chef durch, weist einen Mann auf der Straße zurecht, entdeckt die Freundschaft zu Frauen als Quell echter Lebensfreude, wird etwas weniger penibel was Ordnung, Sauberkeit und Aussehen betrifft. Sie bricht ihre eigenen Codes, von denen sie nicht einmal sagen könnte, von wem oder für wen sie diese übernommen hat. Sie hat immer versucht, die Welt kontrollierbar zu halten, und ihr ständiger Begleiter war die Scham. Ihr bei der Befreiung aus diesen Gefängnissen zuzusehen, ist absolut herrlich, wunderbar befreiend, extrem bestärkend. Ich bin nach der Lektüre ganz anders durch die Stadt gelaufen, habe die Menschen um mich herum weicher betrachtet, nachsichtiger, und v.a. einmal darauf geachtet, wie viel von meiner Eigenwahrnehmung vom Vergleich mit anderen Frauen und dem Wunsch nach männlichen Blicken abhängt. Ich liebe solche Bücher, die den eigenen Blick auf die Welt auf schöne Art verändern.
Rytisalo erzählt diese leise, aber kraftvolle weibliche Metamorphose mit einer unglaublichen Zärtlichkeit, einer Sanftheit für diese Figur und damit für alle Frauen. Das ging mir unter die Haut. Solche Erzählerinnen braucht es, die zugewandt sind, aufmunternd, unterstützend den Charakteren gegenüber, mit denen sie unsere Welt so treffsicher abbilden. Dann lernen vielleicht zumindest die Leserinnen des Romans, genauso freundlich auch auf sich selbst zu schauen, und vielleicht sogar auf andere Frauen. Trotzdem findet die Autorin auch harte Worte, die wehtun, aber diese Ehrlichkeit ist nie vermessen oder belehrend, nie grausam, sondern einfach notwendig, um die Pfade nach vorne zu öffnen, um die Konfrontation nicht zu scheuen mit dem, wie wir uns eben manchmal in der Welt bewegen - sei es nun aus Not, Zwang oder zum Selbstschutz.
Minna Rytisalo ist erneut ein wunderbarer feministischer Roman gelungen, die Liebesgeschichte einer Frau mit sich selbst, die Selbstwerdung in einer Welt, die mit ihren verwirrenden Anforderungen das Eigene zu leicht aus dem Blick geraten lässt. Ein Mutmacherbuch, hoffnungsvoll und zutiefst berührend. Eine große Empfehlung.
Als Jenni Mäki nach vierundzwanzig Jahren ihren Mann Jussi verlässt, wird aus ihr nicht nur namentlich eine Neue, nämlich Jenny Hill. Auch in ihrem Inneren verschieben sich Welten, nach und nach öffnet sie sich ihrer eigenen Wahrnehmung, ihren Wünschen, Träumen und Sehnsüchten, und ein neues Leben beginnt. Begleitet wird sie dabei von den "Prinzessinnen" aus den Grimm'schen Märchen, die sie ermutigen, hinter die Geschichten zu schauen, die wir uns selbst erzählen.
In Minna Rytisalos neuem Roman habe ich mich von Anfang an wiedererkannt. Eine Frau, die sich trennt, eine eigene Wohnung bezieht, nach langen Beziehungsjahren jetzt erstmal wieder allein in der Welt ist. Und der Schock bleibt aus. Denn das Leben geht weiter, und tief in sich weiß Jenny, dass sie auch in ihrer Ehe allein war, viel mehr als jetzt, wo sie noch dazu wenigstens unabhängig ist. Und um Einsamkeit geht es überhaupt nicht in diesem Buch, sondern um das zärtliche, behutsame und schrittweise Hinterfragen alter Lebensnarrative, Muster und Gewohnheiten.
Wir lesen dabei abschnittsweise in Draufsicht auf Jenny und ihr neues Leben, dann wieder aus der Perspektive einer Grimm'schen "Prinzessin" - Dornröschen, Aschenputtel, Rotkäppchen, etc - und aus Jennys Innenperspektive, wenn sie Briefe an Brigitte Macron verfasst und ihr von ihrem Innenleben erzählt. Gerade diese Passagen wirken sehr eindringlich und erinnern stark an "Das verbotene Notizbuch" von Alba de Cespedes (welches die Autorin im Nachwort tatsächlich auch als Hintergrundliteratur nennt). Von den Märchenfiguren lernen wir, wie ihre jeweilige Geschichte wirklich ausgesehen hat - Geschichten voller fremdgesteuerter Frauenschicksale, die für die Märchenerzählung so aufbereitet wurden, dass sie kleinen Mädchen eine Lektion sind. Sei nicht zu schlau, aber auch nicht zu schön; andere Frauen sind primär deine Konkurrentinnen, oder sogar Feindinnen; lass dich nicht mit Männern ein, das verdirbt dich; die Macht über dich haben andere - Eltern, Ehemänner, Brüder. Und diese Figuren werden dann, in einem letzten perfiden Schritt unserer modernen Welt, durch Disney zu wunderschönen Prinzessinnen in traumhaften Kleidern, die von Prinzen gerettet werden. Was sich daraufhin die gesamte westliche Mädchenwelt als Idealbild einer romantischen Liebe abspeichert.
So auch Jenny, die natürlich nicht völlig unreflektiert ist, an der Rytisalo aber zeigt, in welche tiefen Schichten solche kulturellen Narrative eindringen. Jeder Blick auf eine andere Frau ist davon betroffen, jeder Blick auf das eigene Selbst, jede Art von Regeln, die wir uns auferlegen, um den ominösen anderen zu gefallen. Jenny ist eine gewöhnliche Frau in dieser Hinsicht - auf traurige, aber gewöhnliche Art gefangen in diesen Mustern. Die Ajattaras (= Märchenfiguren) zeigen uns immer wieder Ausschnitte aus Jennys Kindheit und Jugend, prägende Abschnitte, die bei Jenny Unsicherheiten, Verhaltens- und Gedankenmuster geprägt haben, und die jeder nachvollziehen kann, der mal jung war.
Und dann zeigen sie uns und Jenny Wege heraus aus diesen Mustern. Jenny tut den ersten Schritt, indem sie Jussi, den Betrüger, verlässt. Einfach so. Ohne Drama, ohne Krieg. Und von da an beginnt sie, ihr Leben neu wahrzunehmen. Es ist keine 180-Grad-Drehung, die hier passiert. Es sind kleine Dinge - sie setzt sich gegen ihren Chef durch, weist einen Mann auf der Straße zurecht, entdeckt die Freundschaft zu Frauen als Quell echter Lebensfreude, wird etwas weniger penibel was Ordnung, Sauberkeit und Aussehen betrifft. Sie bricht ihre eigenen Codes, von denen sie nicht einmal sagen könnte, von wem oder für wen sie diese übernommen hat. Sie hat immer versucht, die Welt kontrollierbar zu halten, und ihr ständiger Begleiter war die Scham. Ihr bei der Befreiung aus diesen Gefängnissen zuzusehen, ist absolut herrlich, wunderbar befreiend, extrem bestärkend. Ich bin nach der Lektüre ganz anders durch die Stadt gelaufen, habe die Menschen um mich herum weicher betrachtet, nachsichtiger, und v.a. einmal darauf geachtet, wie viel von meiner Eigenwahrnehmung vom Vergleich mit anderen Frauen und dem Wunsch nach männlichen Blicken abhängt. Ich liebe solche Bücher, die den eigenen Blick auf die Welt auf schöne Art verändern.
Rytisalo erzählt diese leise, aber kraftvolle weibliche Metamorphose mit einer unglaublichen Zärtlichkeit, einer Sanftheit für diese Figur und damit für alle Frauen. Das ging mir unter die Haut. Solche Erzählerinnen braucht es, die zugewandt sind, aufmunternd, unterstützend den Charakteren gegenüber, mit denen sie unsere Welt so treffsicher abbilden. Dann lernen vielleicht zumindest die Leserinnen des Romans, genauso freundlich auch auf sich selbst zu schauen, und vielleicht sogar auf andere Frauen. Trotzdem findet die Autorin auch harte Worte, die wehtun, aber diese Ehrlichkeit ist nie vermessen oder belehrend, nie grausam, sondern einfach notwendig, um die Pfade nach vorne zu öffnen, um die Konfrontation nicht zu scheuen mit dem, wie wir uns eben manchmal in der Welt bewegen - sei es nun aus Not, Zwang oder zum Selbstschutz.
Minna Rytisalo ist erneut ein wunderbarer feministischer Roman gelungen, die Liebesgeschichte einer Frau mit sich selbst, die Selbstwerdung in einer Welt, die mit ihren verwirrenden Anforderungen das Eigene zu leicht aus dem Blick geraten lässt. Ein Mutmacherbuch, hoffnungsvoll und zutiefst berührend. Eine große Empfehlung.