Auf den Spuren der Vergangenheit in Italien

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merleredbird Avatar

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Danke an Vorablesen und den Rowohlt Verlag, die mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben. Meine Meinung ist davon jedoch unabhängig.

„So viele Zypressen“, sagte Julia. „Auf dem Friedhof stehen noch mehr davon. In Italien sind sie ein Symbol der Trauer, eine Idee aus der Antike, wo sie Tod und Unterwelt repräsentiert haben. Aber für mich haben Zypressen eine ganz andere Botschaft: Wir sind frei. Wir wachsen in den Himmel – so sehe ich diese wunderbaren Bäume.“

Ich finde, dieses Zitat von Matteo fasst die Atmosphäre des Buches sehr gut zusammen. In Zypressensommer geht es um Tod und Trauer, aber auch um Freiheit. Und beides existiert gleichzeitig.

Es ist 1998, und wir begleiten die Hamburgerin Julia auf Spurensuche in die Toskana. Im Dorf Lucignano möchte sie Antworten finden auf die verwirrenden Wörter, die ihr Nonno auf seinem Totenbett als Brief hinterlassen hat.

Von Seite 1 ist man mittendrin im italienischen Flair. Die ausführlichen Beschreibungen von Landschaft und Essen tragen zur wunderbaren Atmosphäre dieses Buches bei. Und wie schön ist es bitte, dass sich am Ende des Buches mehrere Rezepte befinden, die auch im Buch vorkommen? Da wird auf jeden Fall mal etwas nachgekocht!

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen und drei Perspektiven erzählt. Neben der oben bereits erwähnten Julia kommt auch ihr Großvater Gianni im Jahre 1943 selbst zu Wort, als er im 2. Weltkrieg von deutschen Soldaten gefangen genommen und zu Zwangsarbeit in einer Fischfabrik gezwungen wird. Die letzte Perspektive ist die von Guilia, die Geliebte von Gianni, die 1943 in der Toskana zurückbleibt und anfängt, sich bei der Resistenza einzubringen.
Wenn ich ehrlich bin, hat mir die Perspektive von Guilia am Anfang nicht wirklich zugesagt. Ich fand es schwierig, sie einzuordnen und die ganzen dort genannten Personen einzusortieren. Als dann in der Gegenwart die Beziehungen klarer wurden, fiel mir das Lesen deutlich leichter. Aber warum Guilias Kapitel in der „Ich“-Perspektive und die anderen beiden aus der 3. Person geschrieben sind, war mir nicht ganz klar – vom Klappentext her klingt es sehr stark nach der Geschichte von Julia und ihrem Großvater Gianni; Guilia scheint erstmal unwichtig. Ich kann hier nur sagen: dranbleiben lohnt sich, das wird im letzten Viertel der Geschichte aufgelöst!

Ich mochte sehr, wie die Autorin tolle Atmosphäre und eine romantische Liebesgeschichte mit den Schrecken der Vergangenheit kombiniert. So hat dieses Buch zwar einige wirklich schreckliche Momente, in denen die Brutalität der Nazis aufgezeigt wird, aber gleichzeitig auch leichte Momente, welche die Stimmung aufhellen.

Besonders spannend fand ich auch das Nachwort der Autorin, wo sie auf den „echten“ Kontext in Italien der 1940er Jahre eingeht, und zwar die italienischen Militärinternierten und die Resistenzia in Italien. Über beides wusste ich wenig Bescheid – und sie erklärt auch ausführlich, wieso das so ist. Auch gut fand ich, dass sie einen besonderen Fokus auf die weiblichen Wiederständlerinnen in Italien gelegt hat, die in der Geschichte am stärksten vergessen werden. Die historischen Gegebenheiten werden sehr akkurat verarbeitet, was einfach nur Sinn ergibt, wenn man weiß, dass die Autorin promovierte Historikerin ist.

Das Buch war in meinen Augen ein sehr gutes Buch, aber nicht perfekt. An manchen Stellen war mir der Schreibstil etwas zu einfach bzw. steif – die Beschreibungen sind für mich deutlich mehr gelungen als die Dialoge. Ansonsten fand ich es etwas schade, wie stark am Ende das Thema Blutsverwandtschaft als „echte Familie“ betont wurde. Ich will auf gar keinen Fall spoilern, deshalb bleibe ich mal wage. Aber besonders im Krieg ist es vorgekommen, dass Familien getrennt worden sind, und dann z.B. Cousinen als Schwestern aufgezogen wurden, oder leibliche Väter umgekommen sind und die Kinder mit einem Stiefvater aufgewachsen sind. Für mich ist das einfach Familie und ich hätte den das Buch gerne auf einer positiven „found family“ Note hinter mir gelassen.

Insgesamt komme ich auf 4 von 5 Sternen und kann euch das Buch empfehlen, wenn ihr auf Liebesgeschichten mit historischem Touch steht. Auch in das Hörbuch habe ich reingehört und habe es für gut empfunden – wenn ihr wissen wollt, wie die italienischen Sätze und Namen ausgesprochen werden, dann seid ihr dort an der richtigen Adresse!