Das Grausen hat einen Namen: 1793

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philipp.elph Avatar

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Man kann es kaum noch eine Leiche nennen, was der Häscher Mikel im Jahre 1793 in einem verdreckten, mit Abfällen aller Art versetzten Gewässer in Stockholm entdeckt. Es ist ein Kopf mit Rumpf, die Gliedmaßen fehlen. Leere Augenhöhlen, zerfetzte Lippen, kein einziger Zahn.

Stockholm 1793: einer der kältesten Winter, Menschen erfrieren und sterben an der durch Krieg eingeschleppten Malaria. Eine Feuersbrunst im Jahre 1759 hat die Holzhäuser des heutigen Stadtbezirks Södermalm zerstört und die Bevölkerung zusammengepfercht. Der russisch-schwedische Krieg von1788 bis 1790 hat noch mehr Leid und viele traumatisierte Kriegsveteranen in die Stadt gebracht. Im Adel herrscht Angst, die französische Revolution könne auch nach Schweden überschwappen. Nach der Ermordung des Königs „regiert“ der minderjährige Gustaf IV. Adolf unter der Vormundschaft seines Onkels. Die Regierungsgeschäfte führt jedoch Graf Reutersholm nach Gutdünken und umgeben von seinen Spionen, die ständig auf der Suche nach potenziellen Revolutionären sind.

In dieser Zeit prasst Adel und reiches Bürgertum, der Rest erstickt in Müll, Fäkalien, und hungert in Armut. Branntwein und anderer alkoholhaltiger Fusel erleichtern das Leben vieler Männer. Stadtknechte sind unterwegs um kleine Diebe, Räuber und Huren – und die, die als solche denunziert werden – festzunehmen und nach kurzem Prozess in die Arbeitshäuser der Stadt zu verfrachten, in denen es den dort Gefangenen unter der Willkür der Wärter noch schlechter geht.

In diesem Umfeld von Dekadenz, Korruption, Intriganz und Unterdrückung auf der einen, erbärmlichsten Lebensverhältnissen in Armut, Angst oder Suff auf der anderen Seite, ist dieser Roman angesiedelt. Kein Buch hat in letzter Zeit diese Menge an Grausamkeiten und Brutalität aus jenem Zeitalter beschrieben, wie es hier der aus dem ältesten, noch existierenden schwedischen Adelsgeschlecht stammende Autor zeichnet.

Es ist kein Buch für empfindsame Seelen. Das betrifft sowohl den historischen Hintergrund, als auch den Handlungsstrang um eine brutale Ermordung mit allen Nebenaspekten und der Protagonisten. Nur das Motiv, das zur Verstümmelung führt, bleibt lange im Unklaren.

Auf Mörder- und Motivsuche begibt sich Cecil Winge im Auftrag der Stockholmer Polizei. Winge bleibt nicht viel Zeit für seine Aufgabe. Wegen einer Tuberkulose nahe dem Endstadium kann er sich, seinen Tod stets im Sinn, kaum noch auf den Beinen halten. Zudem steht sein Gönner bei der Polizeieinheit kurz vor dem Rausschmiss, Korruption und Nepotismus wird sich auch dort breit machen. Der integre Winge sichert sich als Unterstützung Häscher und Stadtknecht Mikel, einen Kriegsveteran mit Holzarm. Mikel ist es, der erkennt, dass die Amputationen der Gliedmaßen des Toten über einen längeren Zeitraum durchgeführt wurden, eine bestialische Tortur, die unvorstellbar ist.

Am Ende des düsteren Romans gibt es nur einen einzigen und klitzekleinen Lichtblick: für eine Person nimmt die Geschichte einen guten Ausgang.

Das Sittengemälde der Bevölkerung Stockholms im ausgehenden 18. Jahrhundert ist Niklas Natt och Dag außerordentlich gut gelungen. So gut, dass es so abstoßend wirkt und man als Leser froh sein kann, in jener Zeit nicht gelebt zu haben. Die Durchführung des Mordes, der zu der verstümmelten Leiche führt, potenziert das Grausen des Lesers. Das Motiv gerät dadurch fast zur Nebensache, verblüfft jedoch. Winge ist es, der es erkennt, ob er nun dabei „genialer als Sherlock Holmes“ agiert, wie es auf dem Klappentext vorgegaukelt wird, sei angezweifelt, aber das ist auch nicht das entscheidende Element dieses Romans, den Arne Dahl – auch Teil des Klappentextes – so formuliert: „1973 ist ein Meisterwerk, Ein wilder und ungewöhnlicher Mix, der das ganze Krimigenre revolutioniert“. Wenn es denn so ist, dass eine Revolution per Definition ein grundlegender und nachhaltiger struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme ist, so sehe ich in 1793 – einen nachhaltigen Wandel bezweifelnd – zumindest einen außergewöhnlichen Roman, der sich aus der großen Menge von Büchern des Krimigenres abhebt und es deshalb wert ist, gelesen zu werden.