Düster, grausam, genial

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1793, Historischer Kriminalroman von Niklas Natt och Dag, 496 Seiten, erschienen im Piper-Verlag.
Im Stockholm des Jahres 1793 geht es den Menschen sehr schlecht. Der Krieg hat die Kassen geleert und um den Thron entbrennt ein erbitterter Machkampf.
Der Häscher Mickel Cardell, fischt eines Morgens eine, mit höchster chirurgischer Präzision, verstümmelte Leiche aus der Stadtkloake. Zusammen mit Cecil Winge, dem todkranken, genialen Juristen versucht er die Identität des Toten zu ermitteln, je weiter die Recherchen voranschreiten, desto grausiger werden die Entdeckungen.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert, jeder Teil umfasst eine Jahreszeit, es beginnt im Herbst 1793 mit der Entdeckung des Leichnams, die weiteren Teile Sommer und Frühling 1793 gehen zurück in der Zeit, beim letzten Abschnitt Winter 1793 schließt sich der Kreis und der Mordfall und seine Hintergründe werden geklärt. Für mich etwas ungewöhnlich, da in jedem Abschnitt ein anderer Charakter „Hauptperson“ ist, spätestens im dritten Teil kann sich der Leser jedoch die Zusammenhänge erklären und somit der Geschichte gut folgen. Am besten hat mir der dritte Abschnitt über das Schicksal der jungen Anna Stina gefallen, da habe ich die Seiten geradezu verschlungen. Die einzelnen Abschnitte sind mit großen Überschriften gekennzeichnet und mit Aphorismen und Aussagen berühmter Zeitgenossen von 1793 versehen. Natt och Dag hat m. M. nach hier etwas Hervorragendes geschaffen. Die Personen sind so lebendig gezeichnet, dass ich sie bei der Lektüre stets vor Augen hatte. Heftige Dialoge, die nicht mit Kraftausdrücken sparen, machen das Buch lebendig. Etwas verwirrend fand ich die Namen der Orte in schwedischer Sprache. Um mich zurechtzufinden, hat aber die Karte von Stockholm Ende des 18. Jahrhundert auf der inneren Umschlagseite vorne geholfen. Dass der Autor eine umfassende Recherchearbeit geleistet hat, merkt man seinem Werk unbedingt an. Die Lebensumstände Ende des 18. Jahrhundert werden unglaublich gut beschrieben und waren wohl tatsächlich wie oft geschildert, nur im alkoholisierten Zustand zu ertragen. Niklas Natt och Dag hat m.E. mit Worten ein Gemälde der damaligen Zeit geschaffen, die Gerüche, die Grausamkeiten, die Verwahrlosung, Armut und Ungerechtigkeiten sind glaubhaft und nachvollziehbar geschildert, dabei bedarf es bei der Lektüre an manchen Stellen, z.B. Auffindung der Leiche, Hinrichtungen, oder als Anna Stina auf die verschwundene Alma Gustafsdotter trifft, schon eines guten Magens. Obwohl ich beim Lesen nicht zimperlich bin, fand ich diese Passagen ziemlich heftig.
Die Charaktere handelten nachvollziehbar und waren sympathisch, besonders berührt hat mich das Leben der jungen Stina Anna, der so viel Ungerechtigkeit widerfuhr. Tapfer und klug hat sie sich auch in auswegloser Situation nicht unterkriegen lassen. Alle Facetten menschlicher Schicksale sind in diesem Werk sehr bewegend geschildert. Das Buch hat mich sehr berührt und ich konnte es kaum aus der Hand legen, immer wieder musste ich innehalten, tief Luft holen und über das Gelesene nachdenken. Der lungenkranke Cecil Wings und auch der einarmige Häscher Cardell waren tolle Charaktere und überaus unterhaltsam. Eine furchtbare Zeit. Unglaublich wie grausam der Mensch, dem Menschen sein kann. Ein Buch das ich jedem nur empfehlen kann. Ins Detail geschilderte Grausamkeiten, Elend und Perversionen setzen aber einigermaßen hartgesottene Leser voraus. Niklas Natt och Dag hat den schwedischen Krimipreis wirklich verdient und von mir bekommt er dazu 5 Sterne.