Ein sprach- und bildgewaltiger historischer Krimi!

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Ein in jeder Hinsicht „gewaltiges“ und eindrucksvolles Debüt ist dem schwedischen Journalisten Niklas Natt och Dag (40) mit seinem historischen Kriminalroman „1793“ gelungen, der jetzt im Piper-Verlag erschien und sowohl Freunde skandinavischer Krimis wie auch historischer Romane gleichermaßen begeistern wird. Völlig zu Recht wurde der schon 2017 in Schweden veröffentlichte, mittlerweile in 30 Sprachen übersetzte Bestseller mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet. „1793“ ist ein historischer Roman, in dem der spannende Kriminalfall eher Mittel zum Zweck ist, um die vor 225 Jahren in Stockholm herrschenden Lebensbedingungen sowie politischen Ver- und Entwicklungen am Beispiel weniger Figuren abbilden zu können. „1793“ ist zudem ein sprachliches Meisterwerk, für dessen Übertragung ins Deutsche der Übersetzerin Leena Flegler (43) zu danken ist. Mit der starken Bildgewalt seiner Worte gelingt es dem Autor, aus aktionsreichen Szenen ein überaus plastisches Sittengemälde entstehen zu lassen, dass in seiner Gewalt und Brutalität einem manches Mal den Atem nimmt.
Aber worum geht es? Aus einer Stadtkloake wird 1793 eine verstümmelte, bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leiche geborgen. Der Jurist Cecil Winge, als eine Art Sherlock Holmes vom Polizeichef schon mehrmals mit der Aufklärung „besonderer Verbrechen“ beauftragt, und sein „Watson“ Mickel Cardell, ein vom letzten Krieg gegen Russland traumatisierter Veteran mit Holzarm, machen sich an die Aufklärung dieses brutalen Mordes.
1793 ist die Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Traditionelle mittelalterliche Werte werden als Folge revolutionärer Entwicklungen in Frankreich durch Ideen der Aufklärung abgelöst. Doch noch ist der einzelne Untertan rechtlos, Strafen sind drakonisch, es herrscht Willkür. In dieser Zeit repräsentiert Protagonist Cecil Winge den aufkommenden Geist der Aufklärung. Er fordert Gerechtigkeit – auch für Täter. Doch nicht alles kann er nur mit dem Verstand lösen, wie das überraschende Ende des Romans zeigt. „1793“ ist in vier Abschnitte unterteilt, wobei die Teile zwei und drei, in denen wir mit Kristofer Blix und Anna Stina in ganz anderer Erzählweise zwei weitere Figuren über längeren Zeitraum begleiten, rückblickend schildern, wie es gesellschaftlich bedingt – man möchte sagen – zwangsläufig zu dem Mord kommen musste. Erst im vierten Teil führt der Autor die zunächst getrennt laufenden Handlungsstränge im überraschenden Finale zusammen.
Fühlt sich der Leser anfangs noch durch den zu lösenden Kriminalfall gefesselt, wird er doch allmählich von dem in Einzelheiten beschriebenen Sittengemälde jener Zeit gepackt, bis der Mordfall fast zweitrangig wirkt. Niklas Natt och Dag ist ein eindrucksvolles Kaleidoskop der damaligen Gesellschaft Schwedens gelungen. Er zieht seine Leser tief hinein in diese noch gewalttätige und rechtlose Zeit, in die elenden Lebensverhältnisse in Schwedens Hauptstadt, die mit dem heutigen, lebensfrohe Touristen lockenden „Venedig des Nordens“ überhaupt nichts gemein hat. Man darf auf den Folgeroman, an dem der Autor bereits arbeitet, mit Recht gespannt sein.