Einen Schwedenbitter bitte!

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kleine hexe Avatar

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Was Natt och Dag uns hier vorstellt, ist unglaublich. Ohne große Einleitung werden wir direkt ins Geschehen gestürzt. Der Häscher Jean Michael Cardell wird zum Fundplatz einer Leiche gerufen. Kopf und Torso eines jungen Mannes treibt in Fatburen, eine der Kloaken Stockholms. Gliedmaßen hat er keine mehr, sie wurden der Reihe nach amputiert. Augen, Zähne und Zunge wurden auch entfernt. Was ist diesem jungen Mann nur Schreckliches widerfahren? Zum Glück kann das Buch noch keine Gerüche übermitteln. Aber vor unseren Augen läuft der Film der Kloake Stockholms in Superbreitband Cinemascope Full Colour ab, HDMI oder 4K Bildauflösung. Realistischer wäre nur noch selbst dabei gewesen zu sein.
Kein Zweifel, dies ist nicht ein Alexandre Dumas oder Gustave Flaubert Historienschinken. Dies ist gelebte Geschichte. Und ein spannender Krimi zugleich. Während in Frankreich die Revolution wütet, verschärfen und verschlechtern sich die Lebensbedingungen der armen Bevölkerungsschichten in Schweden. Nach einem sinnlosen Krieg mit Russland darben viele Kriegsheimkehrer, weil sie keine oder nur sehr schlecht bezahlte Arbeit finden. Wenn sie auch noch Kriegsversehrte sind, ist ihre Lage noch schlimmer. Jean Michel Cardell, genannt Mickel gehört dazu. Trotz der schrecklichen Lebensumstände, er hat im Krieg einen Arm verloren, hat er sich seine Menschlichkeit bewahrt. Zusammen mit Cecil Winge, einem an TBC erkrankten Juristen und Ermittler in besonderen Fällen bei der Polizei Stockholms, untersuchen sie den Fall des so schrecklich geschundenen jungen Mannes. Doch sie kommen nicht weit. Sie finden zwar einiges heraus, sie wissen wo er die letzten Wochen vor seinem Tod verbringen musste und unter welchen grauenvollen Bedingungen, aber in dem Augenblick wo die Ermittler den Adligen und der Obrigkeit mit den Nachforschungen zu nahe kommen, verlaufen alle Spuren im Sand.
Scheinbar zusammenhanglos springt die Handlung zu einem jungen Mann, Kristofer Blix, der mit kleinen oder größeren Betrügereien sich für wohlhabend ausgibt und Schulden aufhäuft. Bis er und sein Freund auffliegen. Doch sie werden nicht ins Armenhaus /Gefängnis gesteckt, um ihre Schulden abzuarbeiten, sondern buchstäblich verkauft. Der Freund muss sich von nun an prostituieren, Blix trifft ein viel schlimmeres Los. Mit seinen 17 Jahren ist er ein Kriegsüberlebender, doch was er als Sklave des Grafen Balg erlebt und tun muss, bricht ihn letztendlich.
Erneut springt die Handlung zu Ana Stina Knapp. Uneheliche Tochter einer armen Wäscherin, die an Auszehrung stirbt, schlägt sie sich mit dem Verkauf von Gemüse und Obst durch. Unschuldig der Unzucht und Hurerei angeklagt, wird sie verhaftet und ins berüchtigte Spinnhaus auf Langholmen gebracht. Der Prozess ist für unsere heutigen Begriffe eine Farce. Weder wird sie angehört, noch kann jemand zu ihrem Gunsten aussagen. Das Leben im Spinnhaus ist elend. Der brutale und sadistische Wärter Petter Pettersson wählt sich nach Gutdünken seine nächsten Opfer aus. Anna Stina gelingt die Flucht, kurz bevor sie Petterssons nächstes Opfer wird. Doch für ihre Flucht muss sie einen bitteren Preis bezahlen. Sie nimmt eine andere Identität an und lebt fortan als Tochter eines Stockholmer Wirtes, Tulipan. Und sie lernt Kristofer Blix kennen. Blix ist durch seine Erlebnisse und Handlungen auf Gut Fagelsang ein gebrochener Mann. Er kann sich selbst nicht verzeihen. Er lebt noch einmal für einige Tage kurz auf, um Ana Stina zu helfen, danach ist er am Ende. Er übergibt Ana Stina die nun Lovisa Ulrika heißt, ein Päckchen mit Briefen, in denen er über sein Leben und vor allem seine Erlebnisse auf Fagelsang Bericht ablegt. Lovisa Ulrika überbingt das Päckchen ins Haus Indebetou, wie die Polizei hieß, wo es nach einigen Verzögerungen doch noch in die richtigen Hände kommt.
Der Fall scheint geklärt, Balg legt ein umfassendes Geständnis ab. Mit dem Ergreifen des Mörders ist das Buch aber noch nicht zu Ende. Die Gesellschaft Schwedens ist 1793 dermaßen erstarrt und standesgeprägt, dass selbst solch eine bestialische Tat wie die des Grafen Johannes Balg nicht gesühnt würde, weil er adlig und somit über dem Gesetz für den Pöbel steht. Und doch findet Cecil Winge einen Weg, um Balg seine grauenvolle Tat vor Augen zu führen, so dass er selbst mit seinem Tod einverstanden ist.
Ich wiederhole: die Gesellschaft Schwedens ist 1793 dermaßen erstarrt und standesgeprägt, dass der neue Polizeipräsident (Kammerdirektor) Magnus Ullholm zwar ein Adliger ist, aber ein adliger Verbrecher. Jahre zuvor hat er sich mit der Witwenkasse, in die der Stockholmer Klerus jahrelang eingezahlt hat, um im Todesfall die Familien versorgt zu wissen, ins Ausland davongemacht. Nun kehrt er zurück und das gleich als Polizeipräsident. Adel und Obrigkeit stehen über dem Gesetz.
Das Buch ist ehrlich, brutal, lässt uns froh sein, heute und nicht in der guten alten Zeit gelebt zu haben. Es treten wenige historisch verbriefte Personen auf. Denn es ist eher das Volk, das hier die zu Wort kommt.
Seuchen, prekäre hygienische Verhältnisse, Gestank auf allen Straßen, weil Fäkalien und aller Abfall direkt aus dem Fenster oder der Tür in die Gasse geschüttet werden, bigotte und von Standesdünkel geprägte reiche Gesellschaft und rechtlose und geknechtete untere Schicht. Dazwischen gibt es so gut wie keine Mittelschicht. Am schlimmsten trifft es die Frauen der Unterschicht. Zur Prostitution gezwungen, werden ihre unehelichen Kinder stigmatisiert, sie selbst zu Zwangsarbeit verdammt, von den gleichen Männern, die sie vorher missbraucht haben und es nach der Verurteilung weiter tun werden.
Der größte Teil der Handlung spielt im Winter ab, selten ein Sonnenstrahl, die Stadt versinkt in Schnee, Nebel und Dreck. Da sind die paar wenigen Menschen, die versuchen, sich ihre Rechtschaffenheit und Menschlichkeit zu bewahren, wie Lichtblicke in einem düsteren Gemälde. Der heitere und unbeschwerte Blix, der am Ende am Leben zerbricht, Ana Stina die in sich die Kraft findet zu überleben und ihrem Dasein einen Sinn zu geben, Mickel Cardell der einarmig zwar, aber den Kampfgeist nicht verliert und noch einige lose Enden um das tragische Leben des jungen verstümmelten Mannes noch schließen will, Cecil Winge, der Jurist der auch den Verurteilten eine Stimme geben will und letztlich an der Tuberkulose sterben wird. Es sind diese Handvoll Menschen, die in einem Meer von Gewalt und Verbrechen ihre Würde und Ehrlichkeit bewahren und uns nicht verzweifeln lassen ob all dem Grauen und Schrecklichem, das uns aus den Seiten dieses Buches entgegenschlägt.
Wir könnten sagen, es ist das Jahr 1793, da wusste man es nicht besser. Wirklich? Wie sieht es aber heute in den Favelas von Rio de Janeiro aus? Oder in den Slums von Detroit? Oder in Johannesburg? Oder in Neukölln?
Ja, wir schütten heute nicht mehr den Nachtstopf auf die Straße aus, unser Abfall wird von der städtischen Müllabfuhr abgeholt. Aber dafür leben tausende von Menschen weltweit auf Müllhalden. Sklaverei und Zwangsarbeit und Prostitution und Kinderarbeit gibt es immer noch, in Europa verdeckt, auf den anderen Kontinenten offen. Also wie weit sind wir heute von Stockholm des Jahres 1793 entfernt?