Beeindruckendes Debut

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leukam Avatar

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Die in Mainz geborene und heute in Rostock lebende Autorin hat mit 28 Jahren ein erstaunliches Debut hingelegt.
Dass Caroline Wahl hier eine fiktive Geschichte erzählt und nicht ihre eigene, betont sie mit der vorangestellten Widmung : „ Für meine Mama, die immer da ist.“
Das Leben der Ich- Erzählerin Tilda ist streng durchstrukturiert; es hat so gar nichts von einem lockeren Studentenleben. Während ihre Schulkameraden und Freunde nach dem Abitur die kleine Heimatstadt verlassen haben, um in coolen Großstädten wie Berlin oder Amsterdam zu studieren oder irgendwelchen Jobs nachzugehen, ist Tilda geblieben. Denn sie kann ihre jüngere Schwester, die 10jährige Ida nicht allein lassen mit der alkoholkranken Mutter. Nie weiß Tilda, was sie abends daheim erwartet. Liegt die Mutter völlig apathisch und betrunken auf dem Sofa oder ist sie mal wieder wegen einer Kleinigkeit ausgerastet und hat Ida grün und blau geschlagen? Dann gibt es die nächsten Abende verbrannte Spiegeleier als Wiedergutmachung.
Nachdem Tildas Vater vor Jahren die Familie verlassen hat, begann der Absturz der Mutter. Um Ida hat sich von Anfang an die große Schwester gekümmert.
Das heißt nun, dass Tilda neben ihrem Mathematikstudium noch einen Job an der Supermarktkasse hat, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Kraft gibt ihr der tägliche Besuch im Schwimmbad. Hier schwimmt Tilda ihre 22 Bahnen, bevor sie heimkehrt in das traurigste Haus in der Fröhlichstraße.
Da kommt eines Tages ihr Professor mit dem verlockenden Angebot für eine Promotionsstelle in Berlin. Das stellt die junge Frau vor eine schwere Entscheidung. Hier endlich die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben, da die Verantwortung für die jüngere Schwester.
Für zusätzliche emotionale Verwirrung sorgt Viktor, der genau wie Tilda seine abendlichen Bahnen schwimmt. Auch er ist eine verletzte Seele, denn er hat eine familiäre Katastrophe hinter sich. Die beiden kommen sich zögerlich näher, auch weil Tilda früher mit Viktors jüngerem Bruder befreundet war.

Caroline Wahl zieht einem von Anfang an in Bann mit ihrer Geschichte. Das liegt zum einen an der Hauptfigur, die lebensecht und sympathisch wirkt. Es ist rührend, wie fürsorglich sich Tilda um ihre Schwester kümmert, dafür sorgt, dass das Mädchen pünktlich in die Schule kommt und was Anständiges zum Essen hat. Aber sie sorgt sich genauso um deren seelisches Wohlbefinden, tröstet und stärkt sie. Ida ist introvertiert, sie geht z.B. nur an Regentagen mit ins Schwimmbad, weil sie den Kontakt mit fremden Menschen scheut. Ihre Emotionen verarbeitet sie beim Malen von phantasievollen und ausdrucksstarken Bildern.
Ein immer wiederkehrendes Motiv im Roman ist ein Spiel, das Tilda an der Supermarktkasse mit sich selbst spielt: Sie versucht den Typ Mensch zu erraten, der hier einkauft und zwar nur anhand der Waren auf dem Band. Meistens liegt sie hier ganz richtig. Und wenn dann später einige Produkte der Gut&Günstig- Varianten durch den Scanner gezogen werden, weiß der Leser, dass Tilda nun den eigenen Einkauf tätigt.
Es mag irritieren, dass die Autorin die meisten Zahlen nicht ausschreibt, sondern als Ziffern stehen lässt. Doch das passt zur Protagonistin, die als Mathematikerin Struktur und Halt in Zahlen findet. Den braucht sie, denn das Zusammenleben mit einem alkoholkranken Menschen ist unberechenbar, wie Carolin Wahl eindrucksvoll darstellt.
Eine große Stärke des Romans liegt auch in den Dialogen, die knapp, aber lebendig, z.T. ironisch und sehr jugendlich daherkommen. Dabei bringen sie Tempo in den Text, denn oft werden sie wie bei einem Theaterstück nur mit Namen und Doppelpunkt eingeführt .
Am Bild der „ Abendbrottisch-Familie“ bringt die Autorin treffend den Unterschied zwischen Tildas Zuhause und dem einer „ normalen Familie“ auf den Punkt. Bei einer Freundin erlebt Tilda während ihrer Schulzeit, was ein harmonisches Familienleben ausmacht: gemeinsames Essen mit verschiedenen leckeren und gesunden Beilagen und anregenden Gesprächen.
Solche Bilder und Sätze, die bleiben, finden sich einige im Buch.
Große Kunst ist es, dass der Roman trotz der Schwere des Themas seine Leichtigkeit behält. Mit viel Emotionen, großem Interesse und voller Spannung habe ich Tilda während diesem entscheidenden Sommer begleitet.
Es ist eine typische Coming-of-Age-Geschichte, denn nicht nur Tilda, sondern auch Ida macht eine entscheidende Entwicklung durch. Doch es ist kein Roman, der nur jugendliche Leser anspricht, überhaupt nicht.
„ 22 Bahnen“ ist das feinfühlig gezeichnete Porträt einer starken jungen Frau und die anrührende Geschichte einer liebevollen Schwestern- Beziehung. Ein vielversprechendes Debut von einer Autorin, auf deren weitere Bücher ich mich freue.