Großes Kino - und dann...

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fraedherike Avatar

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"Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege und der Wind oder diese Sommernachtsbrise durch die weit geöffneten Fenster auf mich fällt, dann scheint kurz alles gut zu sein. Dann fühle ich mich leicht. Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege, dann denke ich, dass ich das Ganze da draußen noch lange aushalten kann. Für Ida." (S. 15)

Am Ende eines langen Tages lassen der Chlorgeruch und die rauschende Stille unter Wasser Tilda für einen Augenblick alles vergessen: ihr Studium, der Job im Supermarkt, die Wut auf ihre Mutter. Und: die Angst um ihre kleine Schwester Ida. Ihre kleine Löwin. Sie ist der einzige Grund, dass Tilda noch immer hier ist, in der Kleinstadt, während ihre Freunde nach Berlin, nach Amsterdam gegangen sind, bis in den Morgen feiern, sorglos und frei. Doch Tilda kann nicht, sie muss sich um Ida kümmern, Geld verdienen, um Essen kaufen zu können; sie muss Verantwortung übernehmen, wo ihre Eltern ihrer Rolle versagen: Ihre Mutter ist alkoholabhängig, ihr Vater ein Schatten der Vergangenheit. Sie waren keine intakte Abendbrottisch-Familie und es war hart, den Kopf über Wasser zu behalten, dem Druck und der Angst standzuhalten, aber für Ida würde sie alles tun.

"Es gibt nichts Schöneres, als Ida lachen zu hören. (...) Es sind Momente wie diese, in denen ich begreife, dass ich gar nichts bereue und auch mit niemandem tauschen will." (S. 19, 73)

Alles. Aber von einem Tag auf den anderen gerät ihr Leben aus den Bahnen: Tilda wird eine Promotionsstelle in Berlin angeboten. Und dann tritt Viktor in ihr Leben. Viktor, der große Bruder von Ivan. Sie tastet zu der Narbe an ihrer Stirn, erinnert sich an diesen einen Sommer, sein Versprechen – und dann. Der Moment ist vorbei, es drückt von allen Seiten: der Zwiespalt zwischen ihrer eigenen Zukunft und Idas Wohlergehen, der sanfte Flügelschlag in ihrem Bauch, wenn sie an Viktor denkt, die Wut auf ihre Mutter. Und dann gerät alles vollends außer Kontrolle.

"Das hier sollte nie eine Liebesgeschichte werden. Das sollte, wenn, dann Idas und meine, vor allem Idas Heldinnengeschichte werden, in der sich Ida von Mama befreit. Aber andererseits: Was ist ein Heldeneops ohne Liebe? Was wäre das Niebelungenlied ohne Siegfried und Kriembild? Hauptsache, es wird keine tragische Liebesgeschichte. Dafür habe ich keine Kapazitäten." (S. 188)

Tilda hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Menschen anhand der Dinge, die sie aufs Kassenband legen, zu erraten. Bei mir wären das wohl Brokkoli, Vly-Joghurt, Bananen, vegane Chickenchunks. Und Schokolade, ganz sicher. Ich könnte Stunden im Supermarkt verbringen, im Urlaub immer der erste Suchbegriff bei Google Maps, und entsprechend groß war mein Lächeln, als ich die ersten Seiten von „22 Bahnen“, dem Debütroman von Caroline Wahl, las. Doch die Leichtigkeit wurde bald von Beklemmung abgelöst, dem Blick hinter die Fassade. Eindrücklich beschreibt die Autorin die familiären Umstände, die Tilda zu kitten versucht: die Krankheit ihrer Mutter, die Ungewissheit und Armut, die Gewalt – und wie sie zugunsten ihrer Schwester zurücksteckt. Tilda ist selbstlos, verantwortungsbewusst, liebevoll im Umgang mit Ida, tut alles, im ihr ein sicheres Leben zu ermöglichen. Und wenn es das Geld zulässt, Miracoli statt Gut & Günstig zu kaufen.
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Doch während Ida ihre Schwester und ihre Bilder hat, hat Tilda niemanden. Früher, da gab es Marlene. Sie waren beste Freundinnen, doch die Zeit und ihre unterschiedlichen Lebensrealitäten hatten sie entzweit. Da ist nur die Vergangenheit, die sie verbindet: wie sie nebeneinander auf dem Feld lagen in diesem letzten Sommer, über die Zukunft nachdachten, wie sie sich an der Hand hielten während der Beerdigung von Ivan, ihrem Freund, gemeinsam lachten und weinten. Marlene war eine Zuflucht für sie, damals, als es Ida noch nicht gab; jeden Tag saß sie bei ihrer Familie am Abendbrottisch, um nur nicht Zuhause zu sein. Eine Nacht vergessen, die Angst, die Aggressionen, nur sie selbst sein - sie kann, darf nicht mehr vor ihrem eigentlichen Zuhause flüchten. Mit Ida hatte sie wieder einen Anker, wieder eine Familie, um die sie sich kümmern musste, damit sie nicht weiter zerbrach.
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Bis dahin war es eine Heldinnengeschichte, der Weg zur Selbstermächtigung zweier Schwestern - und mein Herz war voll. Doch als Viktor kam, war es, als hätte jemand den Stöpsel im Schwimmbecken gezogen. Ich hab's nicht mehr gefühlt. Die Dynamiken veränderten sich, alles wirkte überhastet und aufgesetzt, zu konstruiert; ich war ernüchtert, denn Viktor hätte es nicht gebraucht. Entsprechend genervt war ich von der zweiten Hälfte, dem Hin und Her zwischen Tilda und Viktor, dem vermeintlichen Freiheitsschlag. Einzig Idas Entwicklung hat mich ungemein gefreut: Sie wächst, wird selbstbewusster, kommt aus sich heraus - und stellt sich auch dem Monster, der Mutter, mit klaren Worten gegenüber. Aber ja, das war's leider auch.
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Denken wir uns den zweiten Teil einmal weg, hätte "22 Bahnen" eines meiner liebsten Bücher dieses Frühjahrs werden können. Ich mochte die dynamische, mit unterschiedlichen Stilen spielende Sprache sehr, die gleichermaßen leicht wie schwermütig daherkommt, und der Geschichte an den richtigen Stellen Licht und Schatten gibt. Und: die Thematik. Tilda und Ida sind bei weitem das wunderbarste Geschwisterpaar, das mir seit langem in der Literatur begegnet ist, da ist mir wirklich das Herz aufgegangen. Insbesondere Tilda hat mir sehr imponiert in ihrem Auftreten gegenüber der Mutter, ihrer Selbstlosigkeit und Fürsorge. Ach puh. Und ich meine, natürlich wünsche ich ihr ein Happy End, einen Ritter in goldener Rüstung, der sie aus dem Schloss rettet und in den Sonnenuntergang reitet oder zum Schwimmbad, was weiß ich, aber ach, lassen wir das. Das war nicht der richtige Moment dafür, weder in der Geschichte noch für mich, als ich die Torstraße entlangstolpernd das Buch las. Aber alles davor: total gefühlt, sehr gemocht. Freue mich auf mehr, Caro!