Verarbeitungsgeschichte

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
herr_stiller Avatar

Von

22 Bahnen ist keine Liebesgeschichte. Keine Familiengeschichte. Keine Coming-of-Age-Geschichte. Also schon, alles mehr oder weniger. Aber vor allem: 22 Bahnen ist eine Verarbeitungsgeschichte. Denn zu verarbeiten gibt es für die Figuren in Caroline Wahls Debütroman einiges: Alkoholismus, Depressionen, Zukunftsängste. Und dabei ist das Buch vor allem eines: sehr, sehr gut. Vor allem dank Ida.

Tilda lebt mit ihrer jüngeren Schwester Ida bei ihrer alkoholkranken Mutter. Aufgrund deren Sucht hat sie den Absprung nach dem Abitur nicht gewagt, kein Work & Travel, kein Studium in einer fernen Stadt. Sie wollte und musste da sein für ihre jüngere Schwester, wenn ihre Mutter mal wieder austitschte, zu viel trank, um sich schlug. Und jetzt: ein Promotionsangebot. Im fernen Berlin. Tilda ist völlig überfordert. Auch, weil Viktor wieder da ist. Ivans Bruder, mit dem sie eine kurze, gemeinsame Vergangenheit hatte, bevor es zum Unfall kam.

Es ist ein Buch der leisen Töne. Ein Buch voller schöner kleiner Beobachtungen, vom Boden des Schwimmbeckens, an der Supermarktkasse, auf dem Dach eines Hochhauses. Ein Buch, das durchaus das Leben und die Probleme der Millennials auffängt, aber ihre Lebensweise nicht glorifiziert, persifliert oder verkitscht. Und ein Buch voller Liebe zweier Schwestern, die sich Kraft geben und sich den Rücken stärken – erst die eine, dann die andere.

Und da wären wir wieder bei Ida. Die kleine Schwester, die zu einer großartigen Person heran- und über sich hinauswächst. Die für staunende, amüsierte Blicke Tildas sorgt, die sich über Idas Verhalten beömmelt und freut. Und auch hier wieder: ganz unaufgeregt, ganz nebenbei, unglaublich sympathisch und realistisch. Die Liebe und der Stolz einer großen Schwester, wundervoll aufgefangen in und zwischen den Zeilen. Jedes weitere Wort wäre ein Spoiler des dritten Teils von 22 Bahnen.

Eigentlich könnte man noch viel mehr schreiben, über diesen eigentlich recht kurzen Roman. Drei Teile in 208 Seiten, die sich am Stück wegatmen lassen. Der tragische Unfall von Viktors Familie, nie ganz klar umrissen und dennoch von enormer Fülle. Tildas Hadern für die richtige Zukunftsentscheidung. Die Entfremdung ihrer Jugendfreunde Marlene und Leon. Die kurzen Schnacks mit Ursula im Schwimmbad. Und aus zweiundzwanzig täglich geschwommenen Bahnen, die langsam, aber stetig von Verdrängung zu Verarbeitung werden, für Tilda wie für Viktor. Das ist ihre Geschichte - und sie ist tieftraurig und wunderschön zugleich.