Wie ein Sprung ins kalte Wasser

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annis22 Avatar

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"Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege, dann denke ich, dass ich das Ganze da draußen noch lange aushalten kann. Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draußen stürzen. Gegen meine Mutter, gegen ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida."

Tildas Leben ist durchgetaktet: Studieren, arbeiten, sich um ihre kleine Schwester Ida und die alkoholkranke Mutter kümmern. Zeit für sich selbst nimmt sie sich nur, indem sie tagtäglich ihre 22 Bahnen schwimmt - bis Viktor in ihr Leben tritt und alles durcheinanderwirbelt.

Ich mochte den Anfang des Buches sehr. Caroline Wahl startet ihren Debütroman "22 Bahnen" wie einen Sprung ins kalte Wasser: man ist direkt drin im Geschehen, mitten in Tildas durchgeplantem Alltag.

Die Autorin bringt außerdem Tildas Liebe zur Mathematik von Beginn an durch verschiedene Stilmittel zum Ausdruck: jegliche Zahlen werden nicht ausgeschrieben, die Sätze sind kurz und präzise, Dialoge werden ohne gefühlsbetonte Adjektive einfach in Drehbuchform niedergeschrieben.
Dies haben einige kritisiert, ich fand jedoch, dass es Tildas Eigenheit sehr gut unterstreicht.
Ebenso passend ist der sehr jugendlich klingende Schreibstil, auch wenn die vielen Anglizismen beim Lesen gewöhnungsbedürftig sind, spiegelt es sehr treffend die Sprache der Generation wider.

Nicht so gut gefallen haben mir die Charaktere: Ich fand sie alle schlicht sehr stereotyp; die große Schwester, die die Mutterrolle übernimmt, der unnahbare junge Mann mit dunkler Vergangenheit, der Vater, der einfach die Familie verlässt usw.
Es kam mir so vor, als hätte man die Figuren aus einem beliebigen Familiendrama genommen und hier eingefügt.

Der größte Plot in der Geschichte ist, wie Tilda versucht, sich aus ihrem prekären Alltag zu befreien, ein eigenes Leben zu führen und ihren eigenen Träumen zu folgen, ohne dabei ihre kleine Schwester im Stich zu lassen. Ihren inneren Zwiespalt dazu, ebenso wie die persönliche Entwicklung der beiden Geschwister, fand ich sehr gut dargestellt, auch wenn die Lösung des Konflikts für Ida meiner Meinung nach eher dürftig ist.

Insgesamt konnten mich aber weder die Charaktere, noch die Geschichte, noch der Schreibstil so richtig überzeugen. Das Buch ist zwar kurzweilig, hat für mich aber keine Besonderheit, kein Alleinstellungsmerkmal. Daher gibt es von mir nur drei von fünf Sternen.