Solider Insel-Krimi in der Kunstszene

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ron_robert_rosenberg Avatar

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Mit ihren Suspense-Romanen knüpft Paula Hawkins an die Erfolgsreihe britischer Krimi-Schriftstellerinnen wie Patricia Highsmith, Minette Walters oder Elizabeth George an. Ihr neuer Roman „Die blaue Stunde“ lässt die Leserschaft in die Welt der Kunst und des Museums-Establishments eintauchen. Er spielt hauptsächlich auf einer beinahe mystischen, kleinen Insel namens Erie an der Westküste, verbunden nur mit einem schmalen Fahrdamm. Ausgangspunkt ist der Knochenfund in einer Kunstinstallation, der menschlichen Ursprungs zu sein scheint. Ein Werk der verstorbenen Künstlerin Vanessa mit dem Namen Division II. Der Museumskurator Becker, der in einer komplizierten Ehebeziehung zu der ehemaligen Verlobten seines Chefs steckt, was zu einer Vermischung geschäftlicher und privater Interessen führt, erhält den Auftrag, Nachforschungen anzustellen. Da die Künstlerin bereits verstorben ist, setzt er für die Aufklärung seine Hoffnung auf das dubiose Faktotum des Künstleridylls auf der Insel – die Freundin und Haushaltshilfe der Verstorbenen sowie Medizinerin Grace.
Bereits das Cover verweist auf den Titel des Buches. Die dunkle Stunde beschreibt das letzte Licht des Sonnenaufgangs, sobald die Rottöne verblasst sind und bevor das helle Tageslicht erstrahlt. Diese Zeitspanne hat in der Geschichte eine besondere Bedeutung, da sie für Aufbruch, Wiederanfang und Hoffnung steht. Die Story entfaltet sich in seiner Methode wie eine Collage verschiedener Elemente - durch Vanessas Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsartikel und Handlungen des Protagonisten Becker. Eine treibende Kraft der Geschichte ist das Seelenleben von Grace, die als Gegenpol zu den Interessen der Museumsstiftung, die Becker hier vertritt, steht. Hinzu kommt, dass Becker eine persönliche Ehrerbietung vor der Kunst der Toten hat. Allein die Untersuchung des Knochens, der zwangsläufig zur Zerstörung des Werks führt, schmerzt ihn sehr. Nach und nach zeigen sich Geheimnisse, die auch Fragen nach sich ziehen: Was passierte mit dem verschollenen Ehemann der Künstlerin Vanessa? Welche Rolle spielt Grace? Welchen Einfluss hat der tödliche Jagdunfall in der Familie der Stiftungseigner?
Wie in den Vorgängerromanen entspinnt sich hier ein feines Netz aus immer wieder neuen Aspekten, die bisher sicher Geglaubtes in ein neues Licht rücken. Hawkins beherrscht ihr Handwerk meisterhaft. Sie führt Leser:innen an der Nase herum und übertreibt es dabei nicht. Die Auflösung des Kriminalfalls ist schlüssig und hat in puncto Glaubwürdigkeit nur wenig Schwächen. Dabei kommt der Haushälterin Grace eine starke Bedeutung zu. Sie erinnert mich an psychopathische Filmfiguren wie in Misery oder Dolores von Stephen King, unglaublich authentisch von Kathy Bates verkörpert.
Insgesamt reicht die „blaue Stunde“ nicht an den fulminanten Durchbruch der Autorin, „Girl on the Train“, oder auch an „Wer das Feuer entfacht“ heran, aber es ist eine handwerklich solide Spannungsunterhaltung aus dem United Kingdom mit lebhaften Figuren, einer interessanten Landschaft und einer zufriedenstellenden Auflösung.