Spannung, die aus der Stille kommt

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»Die blaue Stunde« ist der bereits vierte psychologische Spannungsroman, den die englische Schriftstellerin unter ihrem echten Namen Paula Hawkins veröffentlicht hat. In ihrem Debüt »Girl On The Train«, mit dem die Autorin einen der kommerziell wohl gigantischsten Erfolge der letzten Jahre landete, offenbarte sie bereits sowohl allerhand Stärken als auch Schwächen ihres Erzählens. So war sie zum einen durchaus in der Lage, Spannung auch ohne Blutvergießen aufzubauen und eine aufgeladene Stimmung zu kreieren, die den Leser in ständiger Erwartung eines grandiosen Plot-Twists unwillkürlich zum nervösen Nägelkauen verleitete – womit wir auch schon bei den Schwächen wären, denn so gekonnt manche Stränge auch aufgebaut wurden, der krönende Abschluss wird verpasst, manche Rückblende enthüllt sich als bloßer Seitenfüller und trägt mehr zur Verwirrung denn zur Erhellung bei. Zudem offenbarte sich gerade auf den ersten hundert- bis hundertfünzig Seiten die ein oder Redundanz, die dem Leser insgesamt einen langen Atem abverlangte. Aber seitdem ist viel Zeit verstrichen und Paula Hawkins hatte, von ihrem beispiellosen Erfolg bestärkt, mit weiteren Werken reichlich Gelegenheit, an ihrem Handwerk zu feilen. Die Erwartungen an ihrem neuen Roman »Die blaue Stunde« sind folglich riesig – bekommen wir nun einen in jeder Hinsicht ausgefeilten Psychothriller serviert?
Gleich zu Beginn schlägt die Autorin ganz leise Töne an. Geduldig und mit viel Ruhe führt sie den Leser in die Handlung und die Charaktere ein, wobei sie sich auch viel Zeit für die prägende Atmosphäre nimmt: Schauplatz des Romans ist nämlich eine schottische Insel, ein Ort, der an Abgeschiedenheit und Einsamkeit kaum zu überbieten ist.
Eine Mischung aus Gegenwartsgeschehen, Tagebucheinträgen und sogar der ein oder anderen Rückblende treibt die Geschichte voran; das sorgt für Abwechslung. Meiner Meinung nach gelingt es Paula Hawkins glänzend, die einzelnen Stränge parallel zu führen, ohne zu verwirren oder eine ins Auge springende Unlogik zu offenbaren – das liegt auch daran, dass sie den Leser nicht mit einem aufgeblähten Personal und unzähligen komplizierten Verzweigungen in der Fährtenlegung überfordert, wie es so viele ihrer Kolleginnen und Kollegen tun, sondern den Rahmen insgesamt recht klein und überschaubar absteckt, was bei einem Kammerspiel wie diesem sicher die einzig richtige Entscheidung ist. So kann man sich als Leser auf die vielen Zischentöne im Zusammenspiel der Charaktere, die kaum wahrnehmbar vor sich hin brodelnden Unterschwelligkeiten, die Nuancen in den Verhaltens- und Beziehungsveränderungen der Protagonisten zueinander konzentrieren.
Unterm Strich dominieren bei »Die blaue Stunde« die Merkmale eines Romans und nicht etwa die eines Krimis oder gar Thrillers – was insbesondere für Leser wie mich, die diesem Genre für gewöhnlich rein gar nichts abgewinnen können, sicherlich ein großer Pluspunkt ist. So lässt sich dieses Werk auch mit einer literarischen Brille als durchaus gelungen ansehen. Alles in allem bemerkt man einen signifikanten Fortschritt im Entwicklungsprozess der Autorin: »Girl On The Train« war vielleicht ambitionierter und spannender, dafür wirkt ihr neuer Roman insgesamt reifer und in seiner Konzeption schlüssiger.
Überschäumend ist dieses Werk allerdings nicht. Für den Moment unterhält es wirklich gut, erzielt aber bei weitem keinen bleibenden Effekt. Der Schreibstil ist nüchtern und austauschbar; die Auflösung verzichtet auf eine ganz große Überraschung, wenngleich man zumindest einen kleinen, bescheidenen Aha-Effekt geboten bekommt.
Lasse ich das Leseerlebnis noch einmal im Geiste Revue passieren, fallen mir dennoch keine ins Gewicht fallende Kritikpunkte ein – letztendlich bleibt nur der Eindruck, dass man von einer Autorin, die mit ihrem Erstling 23 Millionen Exemplare verkauft und in vierzig Sprachen übersetzt wird, vielleicht noch ein Quäntchen mehr verlangen könnte. So bleibt bestätigt, was wir alle nach der Lektüre von »Girl On The Train« längst wussten: Nicht bahnbrechendes und überbordendes Schreibtalent machten diesen Roman zu einem beneidenswerten Welterfolg, wie er ohnehin nur in der englischsprachigen Welt möglich ist – es war schlicht und einfach Glück.