Die Fülle des Lebens

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wal.li Avatar

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Schon bevor die Schulzeit in Stendal vorbei ist, weiß die junge Margarete Hegewald genau, was sie will. Ihre Lehrerin möchte, dass sie ihr Abitur macht. Ihr Vater meint, sie wird sowieso heiraten. Doch Margarete will eine Ausbildung machen. Und sie schneidet sich nicht nur die langen Zöpfe ab, sie setzt sich auch durch. Als Auszubildende im Büro von Foto-Werner fängt sie an. Dort ist sie bald als Streberin verschrien, obwohl sie einfach nur Interesse an der Tätigkeit hat. Doch leider wird in den späten 1930er Jahren ihre schöne Jugendzeit von dem Erstarken der Nazi-Partei und deren unsäglichen Regime überschattet.

Die Jugend ist doch die schönste Zeit im Leben eines Menschen, jedenfalls in der Erinnerung. Alles scheint möglich, die Welt steht einem offen. Auch wenn man in einer Diktatur aufwächst, wird man vermutlich so denken. Man schickt sich in die Situation, versucht, das Meiste nicht zu bemerken und wünscht sich nur, glücklich zu werden. Doch das Leben schreibt häufig eine andere Geschichte. Vielleicht bekommt man den Wunschpartner oder auch nicht, er entpuppt sich anders als gedacht. Beruflich läuft es vielleicht gut, vielleicht muss man aber Rückschläge hinnehmen. Vielleicht verschlägt es einen in den Westen oder man bleibt im Osten. Momententscheidungen, die manchmal den Rest des Lebens verändern.

Sehr menschlich dargestellt wird das Schicksal von Margarete, die nicht mehr Margarete oder Gretl heißen will, sondern Margo. Manchmal steht sie auf, manchmal duckt sie sich weg. Der geheimnisvollen Helene, die den spanischen Bürgerkrieg als Fotografin dokumentiert hat, gegenüber verhält sie sich opportunistisch und leistet somit Beihilfe zu deren Überstellung ins Konzentrationslager. Es ist einer dieser Momente, denn obwohl sie kaum noch Kontakt haben, werden die Lebenswege beider Frauen bis ins hohe Alter davon beeinflusst.

Als Leser, dessen Eltern und Großeltern noch zu den Zeitzeugen gehören, kann man sich in viele Szenen dieses Romans gut hineinversetzen. Die Gutgläubigkeit, das nichts gewusst haben, der Neustart, die Verwandten auf der jeweils anderen Seite, das ungläubige Staunen bei Öffnung der Grenzen. Zeitgeschichte, die die Eltern, Großeltern und auch man selbst erlebt hat. Dazu die Berichte in Zeitungen über Machenschaften, von denen man nicht ahnte, die aber auch nicht überraschen. Mit liebenden Augen blickt die Autorin auf ein Leben des letzten Jahrhunderts, mit Höhen und Tiefen, immer authentisch. Vielleicht ist manches Leben eckiger verlaufen, vielleicht auch angepasster. Dennoch kann man anhand der Schicksale von Margo und Helene durch die Zeit wandern und die Jahre nachempfinden, die man selbst nicht erleben musste.

Ein Familienroman, der zum Lesen und zum Verweilen in der Handlung einlädt.

4,5 Sterne