Ada

Wir scheinen am meisten, was wir am wenigsten sind

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jenvo82 Avatar

Von

„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ Mit diesem Satz war ich aufgesprungen. Alles in mir brannte, es war dasselbe Feuer der Vernichtung wie in ihren Augen. Wir trugen die Fackel weiter und merkten es nicht.“

Inhalt

Dies ist die Geschichte einer jungen Frau namens Ada, geboren 1945 in Deutschland, emigriert nach Brasilien und noch in Kindheitsjahren wieder zurückgekehrt in die Heimat. Es ist die Geschichte eines Heranwachsens, in einer Zeit, wo der Krieg vorüber ist, die Menschen aber seltsam still geworden sind und für Ada bleibt ihre Vergangenheit und vor allem die ihrer Mutter lange Zeit ein Rätsel.

Es ist eine lebenslange Suche nach Identität und Werten, ein Leben im Aufbruch, weg von den Grundsätzen der Elterngeneration, hin zu einem neuen Lebensgefühl. Und doch bremst gerade das Fehlen einer greifbaren, nachvollziehbaren Vergangenheit, das Aufbruchgefühl in eine bessere Zukunft ganz wesentlich aus. Denn wohin sollen wir gehen, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen? Das Rätsel um Adas Herkunft findet sie über die Jahre selbst heraus, doch verstanden fühlt sie sich nicht, obwohl ihre Eltern ein klares Familienmodell etabliert haben. Zunächst regiert das Schweigen und eine Elternliebe, die sich aufs nötigste beschränkt, in ihrer Jugend bricht sie aus, muss aber mit Erschrecken feststellen, das die „neue Zeit“ nicht die Verletzungen heilt, wie sie annahm und schließlich begibt sie sich in ihren mittleren Lebensjahren in eine Therapie, um aufzuarbeiten, was ihr bisher nicht recht gelungen ist. Zurück bleibt eine Frau, die die Last ihrer Generation schwer auf ihren Schultern trägt, obwohl sie eigentlich keine dramatischen Lebensbedingungen verkraften musste – was sie prägte war eine Distanz zwischen dem Leben selbst und der Hoffnung darauf.

Meinung

Dies war mein erstes Buch aus der Feder des deutschen Autors Christian Berkel, der nicht nur in der Filmbranche große Erfolge feiert sondern auch schon mit seinem Erstlingsroman „Der Apfelbaum“ für Aufsehen sorgte. Sein Debüt steht bei mir leider noch ungelesen im Regal, doch das werde ich demnächst ändern, denn obwohl ich diese Fortsetzungsgeschichte hier zuerst gelesen habe, hat mich der Erzählstil und die Art und Weise, wie es der Autor vermag seine Protagonisten lebendig werden zu lassen absolut überzeugt. Die Story ist ein gelungener Mix aus persönlicher, berührender Lebensgeschichte in Anlehnung an die historischen Rahmenbedingungen nach dem Krieg, an die Zeit des Wirtschaftswunders, des Mauerbaus und der 68er-Bewegung. Beides fließt gleichermaßen in den Text ein und erschafft ein umfassendes, wenn auch nicht ganz rundes Leseerlebnis mit zahlreichen Facetten und Einblicken in die Zeit meiner Elterngeneration.

Besonders einprägsam und animierend empfand ich die intensive und teilweise schockierende Ehrlichkeit, mit der die Ich-Erzählerin aufwartet. Sie scheint so gar nicht in das Weltbild ihrer Eltern zu passen, obwohl sie es doch in jungen Jahren noch wünscht, akzeptiert und geliebt zu werden. Ihre emotionale Abstumpfung gegenüber dem Elternhaus, ihr zwanghaftes Suchen nach anderen Wahrheiten hat mich definitiv bewegt, selbst wenn ich nicht immer nachvollziehen konnte, gegen was sie eigentlich rebelliert. Seltsamerweise hat sie im Erwachsenenalter anscheinend die richtige Mischung zwischen Nähe und Distanz gefunden, sie hat sich weitestgehend von ihren Eltern getrennt, doch hält selten aber manchmal noch Kontakt. Gerade der Mittelteil des Buches, in dem sie eine Jugendliche ist, hält viele Sachverhalte bereit, über die es sich nachzudenken lohnt, während mir zum Ende hin etwas gefehlt hat, irgendetwas, was Ada vielleicht an die nächste Generation hätte weitergeben können, doch sie tut es nicht, sie bleibt eine Gefangene ihres eigenen Weltbilds, hadert viel zu lange mit ihrer Vergangenheit und sucht überall auf der Welt nach Wahrheiten, die sie nicht findet oder die sich ganz anders entwickeln als sie dachte.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen flüssigen, intensiven Roman der oft wie eine Biografie wirkt, weil die Erzählstimme sehr dominant und nah an ihren eigenen Empfindungen bleibt. Der Text liest sich absolut top, man fliegt durch die Seiten, erlebt Szenen und Bilder hautnah, kann sich die Menschen und ihre Handlungen gezielt vorstellen und bekommt darüber hinaus noch das Gesellschaftsporträt einer ganzen Generation geliefert. Definitiv ein umfassender, detaillierter Roman mit Tiefgang. Gefehlt hat mir vor allem das Positive, die schönen Elemente, jenseits von wilden Drogenpartys, die auch nur dazu da waren, den Verstand abzutöten und den grauen Alltag zu vernebeln. Die nicht enden wollende Suche von Ada hat gerade im letzten Drittel des Buches einen eher schaalen Nachgeschmack, denn was meines Erachtens fehlt, ist Adas Aussöhnung mit ihrer Geschichte. Sie bleibt irgendwo zurück und schiebt viele Dinge von sich weg, was ihr versagt wurde, sucht sie nicht mehr, doch sie klagt nach wie vor an und kann nicht vergessen, was geschah, obwohl sie nun selbst zu den Erwachsenen gehört. Leider hat mich dieser letztlich negative Ausgang und die damit verbundene Aussage etwas enttäuscht, eben weil ich Menschen dieser Zeit kenne, die sich ganz anders und viel positiver entwickelt haben, die nicht so sehr im Selbstmitleid versunken sind, wie Ada. Demnach empfinde ich ihre Geschichte als eine äußerst individuelle und nicht als allgemeingültiges Dokument über die Entwicklung der Nachkriegsgeneration.