Ostalgie trifft Kapitalismus-Kater

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Es gibt Bücher, die entführen einen in ferne Welten – und dann gibt es Adlergestell, das einen mitten auf eine viel zu lange, graue Berliner Ausfallstraße stellt und sagt: „So, hier bist du groß geworden – jetzt guck mal, was daraus geworden ist.“
Laura Laabs erzählt von Lenka, Chaline und der namenlosen Erzählerin, drei Mädchen aus der Eigenheimgasse am Stadtrand Ostberlins. Einschulung kurz nach der Wende, Eltern zwischen Aufbruchseuphorie und totalem Kontrollverlust, Großeltern mit Geistern aus ganz anderen Zeiten. Die 90er werden hier nicht mit Neonfarben und Tamagotchis verklärt, sondern mit einem Blick geschildert, der gleichzeitig witzig, scharfzüngig und gnadenlos ehrlich ist.
Der Roman macht etwas Seltenes: Er zeigt, wie die Nachwendejahre und das „große Versprechen vom Westen“ sich anfühlten, wenn man nicht in Hochglanzwerbung, sondern im Plattenbau aufwuchs. Dazu gibt’s Sprünge in die Gegenwart, in der die Freundinnen ganz unterschiedliche Wege gegangen sind: Beauty-Bloggerin, Konvertitin zum Islam, Rückkehrerin an den Ort, von dem sie einst wegwollten. Die Frage „Wie viel vom eigenen Leben hat man eigentlich selbst in der Hand?“ schwingt dabei in jeder Szene mit – und Laabs weigert sich dankenswerterweise, einfache Antworten zu geben.
Besonders stark: Die Autorin Laura Laabs gibt nicht nur den drei Mädchen Raum, sondern auch den Frauen um sie herum. Jede hat ihr eigenes Päckchen zu tragen, ob es nun um häusliche Gewalt, das Erbe des Nationalsozialismus oder die Enttäuschungen des Kapitalismus geht. Und ja – dazwischen immer wieder diese genialen schwarzen Seiten mit Produktwerbung, die wie kleine Schlaglichter wirken. Zwischen „Fairy Ultra“ und „Merci“ zeigt sich nämlich, wie Versprechen aussehen können, die nie eingelöst wurden.
Adlergestell ist kein bequemes Buch. Es kratzt, es reibt, und manchmal möchte man den Figuren zurufen: „Lasst doch endlich los!“ Aber genau das macht es so gut. Laura Laabs hat ein Debüt geschrieben, das nachhallt, weil es Ost und West nicht in Watte packt, sondern Widersprüche auskostet.
Ich habe es natürlich auch sehr gerne gelesen, da ich dieses Berlin aus der Ferne schon mitbekommen habe vom West-Berliner Stadtrand.

4 von 5 Sternen – und einer davon ganz klar für den Mut, eine Geschichte zu erzählen, die weder nostalgisch verklärt noch moralinsauer daherkommt.