Sommer, Sonne, Wendezeit

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nightingowl Avatar

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Eine Zeitreise in die 1990er, atemlos zwischen zwei Jahrzehnten, zwei einst geteilten Ländern, zwei Wirtschaftssystemen, gespickt mit ganz vielen Details und popkulturellen Elementen - das verspricht "Adlergestell" von Laura Laabs. Das Cover trifft meinen Geschmack leider nicht. Das Gespenst passt zwar zur Handlung, aber ich empfinde die Gestaltung einfach nicht als ästhetisch und hätte ich das Buch im Buchladen gesehen, hätte mich das Cover vermutlich nicht zum Kauf verleitet.

Um besser ist dagegen der einzigartige Schreibstil von Laura Laabs, ich bin wirklich sehr schnell durch die Seiten geflogen. Dem bildlichen Schreiben merkt man das Studium der Filmwissenschaft an, welches die Autorin absolviert hat - nicht zuletzt auch an den Einschüben am Beginn jedes Kapitels, in denen häufig zeitgenössische Werbungen beschrieben und heraufbeschworen werden. Das hat mir sehr für die Immersion geholfen, mich in die beginnenden 1990er Jahre einzufühlen.

Vornehmlich berichtet in "Adlergestell" die Protagonistin von ihrer Kindheit und der Rückkehr in ihr altes Viertel in der Gegenwart. Ergänzt werden sehr viele, unterschiedlich lange Kapitel aus der Sicht mehrerer Figuren des Buchs, welche mitunter in den Hauptkapiteln nur kurz erwähnt werden. Auch das "Adlergestell" selbst, die längste Straße Berlins, kommt sozusagen zu Wort. Ich habe diesbezüglich gemischte Gefühle: Zum einen sind mir das einfach zu viele POVs, zum anderen haben aber gerade POVs der älteren Frauen mich am meisten berührt, in denen sie über gescheiterte Ehen, Einwanderungsgeschichten, traumatische Ereignisse oder die Weltkriege berichten...

In die scheinbar ruhigen, kleinbürgerlichen Straßen des Ostberliner Vororts kracht die Wendezeit hinein: Die Läden verändern sich, die Werbung verändert sich, die Klamotten verändern sich. Mitunter verändert sich die Gesinnung gleich mit. Die Autorin schildert eindrücklich große und kleine Schicksale der Wiedervereinigung, was diese für positive Veränderungen, aber auch für negative Entwicklungen mit sich gebracht hat. Doch der oberflächliche Frieden zwischen Einschulung und Calippo-Eis trügt, jede Figur trägt teils sehr dunkle Schatten oder gar Gespenster mit sich herum. Generationstraumata wiederholen sich, vorpubertäre Ausbruchsversuche aus der Eigenheimidylle enden katastrophal, selbst das aufgeräumteste Haus hat Leichen im Keller. "Adlergestell" ist trotz der unauffälligen Aufmachung nichts für schwache Nerven.

Am meisten mitgenommen hat mich das Ende des Romans und fast etwas resigniert zurückgelassen. Es passt zwar zum Buch und dessen realistischen, ungeschönten Ton insgesamt sehr gut, hat mich jedoch kalt erwischt mit dem Ausblick, den es für die zukünftige politische Entwicklung der Protagonistin gibt. Im Endeffekt fehlt mir auch von der Mitte bis zum Ende des Buchs etwas der rote Faden und es wird sich zu sehr auf die möglichst greifbare Schilderung der Zeit fokussiert. Insgesamt gebe ich "Adlergestell" 4 von 5 Sternen und eine Leseempfehlung gerade jetzt für die Sommerzeit!