Das Gesicht der Vergangenheit

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Wie lebt man sich in eine frühere Generation hinein? Die Antwort auf diese Frage ist nie einfach. Ungleich schwieriger wird sie dann, wenn diese vergangene Generation nicht nur einen Krieg, sondern gleich die Folge von zweien erlebt hat. Reinhold Beckmann sieht in Aenne und ihre Brüder durch die Augen der Vergangenheit lässt dabei für uns eine längst vergessene Welt wiedererstehen. Eine Welt, die viele nur von Schwarz-Weiß-Porträts kennen, wie wir sie auf dem Cover finden.

Alles beginnt im Jahr 1921 in Wellingholzhausen, einem Dorf in der Nähe des Teutoburger Waldes, wo Platt gesprochen wird und der Pfarrer die höchste Instanz ist. Er beschreibt die Region mit geradezu romantisch angehauchter Poesie. In die kleine Idylle platzt jedoch immer wieder die Politik mit ihren Kriegen und Unruhen, die anderswo gestiftet aber lokal ausgetragen werden. Die junge Republik durchlebt eine Zeit der Nachwehen des Krieges, geprägt von Unzufriedenheit und Finanzkrisen. Mitten in diese Zeit wird Aenne geboren, Nesthäkchen und einziges Mädchen unter drei Brüdern. Die Mutter stirbt im Wochenbett, vom Bruder des Vaters mit Kriegstuberkulose infiziert. Und noch bevor das Buch richtig Fahrt aufgenommen hat, begreifen wir: Das Leid endet nicht zwangsläufig mit dem Krieg.

Beckmann bemüht sich, die Zeit zu kontextualisieren, den Menschen von damals einen politischen Hintergrund zu geben. Am Horizont tauchen bereits Stimmen auf, die Hitler später unterstützen werden. Dennoch greifen einige seiner Erklärungen zu kurz. Hitlers Aufstieg in Deutschland allein mit der Frustration über den Versailler Vertrag zu begründen, widerspricht der bis heute andauernden Diskussion über die Komplexität der politischen und sozialen Lage, die letztendlich in der Katastrophe rund um den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust gemündet hat.

Die Geschichte der Habers steht exemplarisch für viele deutsche Familiengeschichten des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts. Sie erzählt von Menschen, die zwischen zwei Kriegen ihren Platz in der Welt suchen, überrollt von dem, was sozialpolitisch um sie herum geschieht. Langsam trauen wir uns, diesen Menschen ein Gesicht zu geben, uns zu ihnen zu bekennen. Auch die Habers gehören zu diesen Gesichtern und allein deshalb werde ich Aenne und ihre Brüder in jedem Fall lesen.