Umkehrung von Rollenbildern, statt deren Auflösung

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ichgebäre Avatar

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Worum geht es?
„Das Schattenschiff“ ist der erste Band der Serie „Aleja und die Piratinnen“ von Maria Kuzniar. Es handelt sich um ein Jugendbuch.

Aleja lebt im vorindustriellen Zeitalter in Sevilla. Das Buch ist in der 3. Person, aber aus Alejas Sicht, geschrieben. Obwohl sie eigentlich nicht meckern kann – sie hat Familie, lebt nicht auf der Straße und es gibt genug zu essen – träumt sie von mehr. Sie hat sich selbst das Lesen beigebracht und schleicht sich regelmäßig in die große Bibliothek, um Bücher „auszuleihen“. Am liebsten sind ihr die Geschichten von Piraten und Entdeckern.

In ihr reift der Wunsch, selber solche Abenteuer zu erleben. Aber das ist natürlich ausgeschlossen: Immerhin ist Aleja ein Mädchen.

Ihr Leben wird auf den Kopf gestellt, als ein Schiff im Hafen einläuft, auf dem nur Frauen segeln: Piratinnen! Über eine Kombination aus Zufall und Manipulation gelangt Aleja an Bord. Es dauert nicht lange, bis die Crew zu ihrer zweiten Familie wird. Gemeinsam segeln sie von Spanien nach Marokko, wo Kapitänin Quint einen Hinweis auf einen sagenumwobenen Schatz vermutet. Auf dem Weg dorthin lauern verfeindete Schiffe, Seeungeheuer, magische Dschinn, französische Konsuln und chauvinistische Geister.

Auf dem Weg dahin erlebt Aleja aber auch Magie, tiefe Freundschaften, Geschichten aus fernen Ländern und überraschende Einsichten.

„Das Schattenschiff“ hat ein offenes Ende: Die Mission wurde erfüllt, doch ist sie erst der Auftakt zu weiteren Abenteuern.



Meine Meinung
„Ein Jugendbuch jenseits von Geschlechterklischees!“ Diese Hoffnung war es, die mich dazu trieb, das Buch zu lesen. In der Tat erfüllt Aleja und die Piratinnen: Das Schattenschiff die Bedingung, dass mehrere Frauen im Buch nicht nur Namen haben, sondern auch über andere Dinge sprechen als Männer.

Dennoch fiel es mir schwer, ins Lesen zu kommen. Ich weiß gar nicht genau, woran es lag. Die einleitenden Kapitel sind gut geschrieben und enthalten alles, damit die Geschichte Fahrt aufnehmen kann. Dennoch packte mich die Geschichte erst auf dem Schattenschiff richtig. Vielleicht liegt es daran, dass auf dem Schiff die zwischenmenschlichen Aspekte an Bedeutung gewinnen. Die Dialoge machen die Geschichte schneller und facettenreicher.

Am Ende war ich dann fast enttäuscht, dass das Buch schon vorbei war. Die letzten Seiten gehören nämlich zu einer Leseprobe. Weil ich das vorher nicht nachgeschaut hatte, war ich davon überzeugt, noch mindestens 10 Seiten Geschichte vor mir zu haben. (Ja, ich weiß – Anfängerinnenfehler…)

Nachdem ich das Buch gelesen hatte, hab ich mich zuerst durch die Wikipedia geklickt. Im Buch findet sich nämlich keine Jahresangabe. Doch es werden verschiedene Hinweise genannt, anhand derer ich versucht habe, die Geschichte zeitlich einzuordnen. Das Ergebnis: Das Schattenschiff spielt vermutlich zwischen 1670 und 1700. Hinweise darauf gaben sowohl Verwandtschaftsverhältnisse zum Entdecker Thomas James als auch Verweise auf die Uni in Sevilla und die politische Situation in Marokko. Positiv ist, dass all diese Hinweise ein schlüssiges Bild ergeben. Es gibt keine Ereignisse, die aus der Zeit fallen – wenn man von der Magie mal absieht.

Überhaupt war ich etwas überrascht davon, Magie im Buch zu finden. Die Magie tut dem Buch in gewisser Weise gut, ich hätte es aber auch ohne solche Einschübe gern gelesen. Sie steht eher im Hintergrund und bildet den Anlass für einige unvorhergesehene Zwischenfälle. Es ist aber nicht so, als würde eine der Hauptpersonen bewusst Magie betreiben.

Ziemlich im Mittelpunkt der Geschichte stehen dagegen die Beziehungen der einzelnen Besatzungsmitglieder zu einander. Auf dem Schiff gibt es (abgesehen von einem Geist) nur weibliche Besatzungsmitglieder. Diese haben alle Namen und kommen aus unterschiedlichen Gegenden der Welt. Nach und nach erfährt Aleja sowohl etwas über ihre persönlichen Hintergründe als auch über die Länder, aus denen sie kommen. Ich fand diese Passagen wunderbar: Die Autorin schreibt mit viel Liebe zum Detail. Es wird deutlich, dass jede Piratin aus sehr eigenen Motiven auf das Schiff kam. Manche trieb die Not, andere die Freude. Jede hat unterschiedliche Fähigkeiten, die sie in den Dienst der Mannschaft Besatzung stellt. Eine der Piratinnen, Malika, kommt aus Marokko. Als die Piratinnen in Marrakesch ankommen, werden sie von Malikas Frau empfangen. Dies ist die einzige Situation, in der die Leserin erfährt, dass eine der Piratinnen Familie hat. Dass Malika eine Partnerin statt eines Partners hat, wird vollkommen unaufgeregt erzählt. Sie küssen sich beim Wiedersehen und ihre Partnerin – Habiba – übernimmt im Laufe der Geschichte kleine Aufgaben. Aljea wundert sich eher über die Tatsache, dass die kämpferische Malika eine feste Beziehung führt, statt über das Geschlecht der Partnerin. Einerseits finde ich diese Darstellung wunderbar, weil sie meinem Menschenbild entspricht. Andererseits ist sie für das 17. Jahrhundert vermutlich ziemlich ungewöhnlich. Aber gut, wer auf einmal mit magischen Wesen und Piratinnen über den Atlantik segelt, wundert sich vielleicht auch nicht mehr über gleichgeschlechtliche Liebe.

Positiv ist mir außerdem aufgefallen, dass das Buch nur so vor Allgemeinwissen strotzt. Oh, ich mag es, wenn ich beim Lesen auch noch etwas lerne (manchmal sogar, ohne es zu merken). Ein paar Beispiele: Es gibt Kamele mit einem und Kamele mit zwei Höckern. Am Hof des französischen Konsuls tanzte man ein Menuett (auch das passt zeitlich in den Kontext). In Norwegen gibt es Polarlichter.

Immer wieder kommen im Buch auf Fremdworte vor. Gerade für ein Jugendbuch finde ich das positiv bemerkenswert. Eine ungefähre Vorstellung, was die jeweiligen Worte bedeuten, geht aus dem Kontext hervor. Wer genau wissen will, was Medina, Riad und changieren bedeuten, greift zum Fremdwörterbuch.

Umso überraschter war ich, als ich „wegen dem“ las. Da hat die Übersetzerin Katharina Orgaß sich wohl hinreißen lassen.

Geschichten von Pirat*innen sind natürlich romantisiert. Selten werden Mangelernährung, Hygienezustände an Bord oder die moralische Rechtfertigung von Piraterie (ob nun eigenmächtig oder im Auftrag einer Regierung) angesprochen. In Bezug auf die Lebensumstände trifft das auch auf Alejas Geschichte zu. Allerdings lernen wir von verschiedenen Besatzungsmitgliedern, dass es gewisse ethische Grundlagen gibt, auf denen sie Piraterie ausüben: „Wir sind wie Robin Hood“, erklärt eine junge Piratin Aleja. Einerseits ist es verständlich, dass das Piratinnentum damit moralisch legitimiert wird. Wir sind schließlich alle für mehr Gerechtigkeit. Andererseits hätte ich mir gewünscht, dass diese recht bipolare Ansicht etwas aufgebrochen wird. Die Grenzen zwischen „Rettung der Armen“ und „Selbstbereicherung“ verlaufen eben nicht immer so klar.

Wie bereits gesagt: Ich hatte gehofft, dass Geschlechterrollen im Buch bewusst thematisiert und vielleicht sogar dekonstruiert würden. Dies ist aber nur teilweise der Fall. Der männliche Geist an Bord vertritt die chauvinistische Ansicht, dass die Frauen doch bitte endlich ihre Waffen ablegen mögen, weil sie sonst nie jemanden zum Heiraten fänden. Das Thema der Heirat kommt auch im Gespräch zwischen der Kapitänin und dem franzöischen Konsul in Marrakesch vor: Die Kapitänin macht deutlich, dass es ihr nicht darum geht, einen geeigneten Mann zu finden. Sowohl der Geist als auch der Konsul vertreten also den gesellschaftlichen Standard. Es gibt keinen Mann, der dieses Rollenbild aufbricht. (Eine winzige Ausnahme ist Alejas Bruder, der gern kocht. Das kommt aber nur ganz am Anfang kurz vor.)

Kurz wird thematisiert, dass die Piratinnen männlichen Gegnern meist an körperlicher Kraft unterlegen sind, dies aber die die Wahl der Waffe teilweise wieder ausgleichen können. Und hier sind wir auch schon bei einem wichtigen Punkt: Es gibt (abgesehen von Alejas Bruder und ihrem Vater, die aber nur kurz im ersten Kapitel auftauchen) keine positiv besetzte männliche Person. Männer werden entweder als Randfiguren (wie der Teppichverkäufer) oder als Gegner (wie der berühmt-berüchtigte Piratenjäger) dargestellt. Statt die Rolle von Geschlecht kritisch zu hinterfragen, werden die Verhältnisse im Buch also eher umgedreht: Aleja und ihre Piratinnen sind die Guten. Ihre Gegenspieler sind männlich. Und böse. Zwischenzeitlich sieht es so aus, als wäre eine der Piratinnen zum Gegner übergelaufen. Damit gäbe es dann wenigstens eine böse weibliche Person. Es stellt sich aber später heraus, dass sie als Spionin beim Gegner eingeschleust wurde. Weil sogar Malikas Partnerin weiblich ist, gibt es tatsächlich eine starke Kluft zwischen den gerechten Frauen auf der einen Seite und den bösen Männern andererseits. Dass Kapitänin Quint zwischenzeitlich als Ersatzmutter für die jüngeren Besatzungsmitglieder fungiert, erhärtet ebenfalls eher den Eindruck, dass es der Autorin höchstens oberflächlich um das Aufbrechen von Geschlechterrollen ging.

Dennoch ist es natürlich schön, dass zumindest mit den weiblichen Rollenbildern gespielt wird. Ob nun als gute Partie oder als Mutterersatz: Quint ist als Kapitänin eines magisches Schiffs eine Ausnahme und verdeutlicht dies auch immer wieder ihren Besatzungsmitgliedern.

Etwas unzufrieden war ich mit dem Cover des Buches. Es ist auffallend rosa und bedient damit das Klischee, dass Mädchen selbst als Piratinnen auch irgendwie süß und hübsch sein sollten. Außerdem steht auf dem Einwand die Frage „bist du eine echte Piratin?“ Hm. Bin ich das? Wodurch zeichnet sich eine echte Piratin aus? Muss ich gemordet oder zumindest geentert haben? Oder die Krone bestohlen haben? Brauche ich einen Freibeuter(innen)brief?


Fazit
Die große feministische Revolution bleibt aus. Da habe ich wohl zu viel erwartet – und andererseits hätte ich es mir bei der Gestaltung des Covers auch denken können. Aleja und die Piratinnen ist angenehme Jugendlektüre. Es ist schön, dass Mädchen nun auch in die Welt der Seeräuber*innen eintauchen können, ohne sich zur persönlichen Identifikation immer noch eine weibliche Person dazudenken zu müssen. Auf Kapitänin Quints Schiff gibt es mehr als genug potentielle Identifikationspersonen.

Die Geschichte ist spannend und lässt auf den zweiten Teil hoffen. Vielleicht verschiebt sich dann auch die krasse Aufspaltung zwischen guten Frauen und schlechten Männern. Das wäre nicht nur realitätsnäher, sondern würde zusätzlich das Buch auch für männliche Leserschaften öffnen – und wäre damit ein wichtiger Schritt hin zu echter Emanzipation und Dekonstruktion von den so übermächtigen Geschlechterrollen, mit denen sich Jugendliche herumschlagen müssen.