Dem Glück hinterherhinken

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"Ich begreife einfach nicht, wie eine Frau wie du sich in eine solche Situation bringen konnte. Du hättest deine Freiheit behalten und dein Leben so leben können, wie es dir passt, ohne all die Lügen. Es erscheint mir... abwegig."

Nach außen hin führt Adèle ein Leben, dem es an nichts fehlt. Sie arbeitet als Journalistin und ist finanziell unabhängig, zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem schicken Viertel. Doch Adèle ist mit diesem Leben nicht zufrieden. Sie sucht Erfüllung in den Armen und den Betten fremder Männer, obwohl sie weiß, dass sie langsam die Kontrolle verliert und damit alles aufs Spiel setzt.

Adèle ist eine Frau, die verzweifelt nach dem Glück sucht. Sie findet es weder bei ihrer Familie, noch bei ihren zahlreichen Liebhabern, mit denen sie zunehmend brutalen Sex hat. Ihre Freundin Lauren fragt sie, warum sie sich überhaupt für die Ehe entschieden hat, wo sie doch so ausgeprägte sexuelle Bedürfnisse hat. Doch eines ist klar: Adèle sucht Schutz, vor sich selbst und der Welt, sie will sich in die vorgefertigten Muster bürgerlicher Normalität fügen - und darin hat Sexsucht nichts verloren. Das Familienleben sollte sie umhüllen wie ein Mantel, ihr Erfüllung bringen, doch die bleibt aus. Also vermutet sie das Glück anderswo, in der verlorenen Welt ungebändigter Sexualität. Doch auch dort wartet nichts auf sie, sie sehnt sich zurück zu ihrer Familie... und so beginnt die Odyssee dieser Frau, die gnadenlos und zwanghaft um sich selbst kreist.

Dieses innerliche Losgelöstsein von jeder Normalität versteht Slimani so hervorragend zu versprachlichen, dass ich manchmal völlig vergaß, dass diese Geschichte in unserer Welt spielt. Adèles Leben, ihre Gedanken sind so verstörend, dass es unmöglich erscheint, einen Bezug zur mir bekannten Realität herzustellen. Nur in den Gesprächen mit Lauren erkennt man, dass Adèle tatsächlich ein Mensch im eigentlichen Sinne ist. Diese Geschichte hatte für mich etwas immanent Bedrohliches, etwas zutiefst Aufwühlendes, das sich bis zum Ende hin nicht recht fassen lässt. Adèle entgleitet dem Leser, sie passt in keins der üblichen Muster. Was sie tut, ist nicht einfach nur ein Ausbrechen aus ihrem Leben - sonst würde sie letztendlich, als ihr Mann Richard ihre Affären entdeckt, einfach gehen. Der brutale Sex ist nicht einfach nur dazu da, dass sie sich spürt. Das sind die altbekannten Geschichten über Frauen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind. Bei Adèle ist das Ganze grundlegender.

Ihre Sexsucht beginnt nicht erst im Erwachsenenalter, bedingt durch Wohlstandslangeweile und eine unglückliche Ehe, sondern schon sehr früh in ihrer Jugend. Die Autorin lässt immer wieder verstörende Einzelheiten einfließen, die zeigen, wie hilflos Adèle diesem inneren Drängen ausgeliefert ist. Einblicke in das Leben mit der Mutter zeigen, warum Adèle unfähig ist, sich selbst zu lieben und sich von anderen geliebt zu fühlen. Zwar ist ihr kleiner Sohn für sie eine Art Lebensmittelpunkt, sie weiß, dass sie tief in sich Liebe für ihn empfindet - verborgen hinter Angst, Wut und Hass - doch er ist ihr oft auch einfach nur lästig. Er hat Bedürfnisse, bürdet ihr gewissermaßen eine Fremdbestimmung auf, die sie nicht mit ihrer Suche nach Erfüllung vereinbaren kann. Das Kind gibt ihr nichts, so sehr sie es sich auch wünscht. Und der kleine Lucien hat mein vollstes Mitleid.

Im zweiten Teil des Buches kommt auch Adèles Mann Richard zu Wort, der ihre Affären entdeckt und die Familie daraufhin in ein einsames Landhaus verfrachtet, jeden Kontakt zum alten Leben abbricht und sie zwanghaft überwacht. Adèle arrangiert sich, doch sie weiß, ihr Leben ist leer. Nicht, dass es davor erfüllter gewesen wäre - es gab nur mehr Ablenkung. Adèle ist eine Frau, die an der Oberfläche treibt, und wenn sie in sich hineinspürt, dann ist da nichts als Leere.

Die Tragik dieser Geschichte ist nicht offenkundig. Es ist keine Geschichte von Emanzipation. Es ist die Geschichte einer seelisch zerrütteten Frau, die dem Leben nichts abgewinnen kann, aber auch nicht sterben will. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die sich abgrundtief hassen, aber auch nicht ohneeinander auskommen. Slimani erklärt diese Reflexe menschlicher Herzen nicht, die Geschichte kann genauso wenig aus ihrer Haut wie die Adèle und RIchard, und so bewegt sich alles in einem endlosen, zermürbenden Kreis, der für niemanden einen Ausweg bietet. Ende offen.