Innere Abgründe

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gormflath Avatar

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Viele Frauen würden Adèle um ihr Leben beneiden. Sie hat einen zuverlässigen Mann, der als Chirurg arbeitet, einen gewissen Wohlstand und arbeitet als Journalistin für eine Pariser Tageszeitung. Mit Richard und ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem schicken Viertel, in der Nähe von Montmartre. Sie reisen, sie fahren übers Wochenende ans Meer. Trotzdem macht Adèle dieses Leben nicht glücklich - ständig fühlt sie eine innere Leere, die sie mit zahlreichen Seitensprüngen zu übertünchen versucht. Gelangweilt trifft sie sich mit Männern, hat Sex mit Fremden. Obwohl sie Richard liebt und ihr die Ehe mit ihm Sicherheit bietet, bricht sie immer wieder aus dem ruhigen Fahrwasser ihrer Ehe aus und setzt aufs Spiel, dass sie die Familie verlieren könnte. Adèle weiß, dass ihr die Kontrolle entgleitet.
Beim Sex geht es ihr gar nicht darum, einen Orgasmus zu erleben, vielmehr reizen sie Situationen, in denen sie sich ausgeliefert fühlt und passiv bleibt. Adèle sucht das Vulgäre, sie will schwach sein dürfen und hat gleichzeitig davor Angst, tief zu fallen.
Zitat: "Sie ist euphorisch, wie Betrüger es sind, die man noch nicht entlarvt hat. Voller Dankbarkeit, geliebt zu werden, und starr vor Angst bei der Vorstellung, all das zu verlieren."
Erst das letzte Drittel des Buches stellt die Situation aus Richards Sicht dar. Selbst nachdem er per Zufall erkennen muss, wie sehr und wie lange schon Adèle ihn betrogen hat, kann er sie nicht fallenlassen. Ein neues Haus in einer anderen Umgebung und eine Therapie sollen helfen. Aber wird Adèle ihr Leben ändern können, kann man sie zu ihrem Glück zwingen?
Prix Goncourt-Preisträgerin Leïla Slimani („Dann schlaf auch du“, 2016) erzählt von der Zerrissenheit einer Frau und gibt dem Leser einen Blick in ungeahnte Tiefen der menschlichen Psyche. Kurze Kapitel bestimmen die Handlung, die trotz des ruhigen Stils einen Sog entwickelt. In der inneren Zerrissenheit und Getriebenheit der Protagonisten mag sich der eine oder andere Leser erkennen. Auch wenn die Sympathien der Leser sicher eher auf Richards Seite sein werden, ist Adèle im Grunde zu bedauern.