Sie ist so frei

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hybris Avatar

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„ All das zu verlieren“ ist Leila Slimanis Debut, stellenweise merkt man dies dem Roman auch an, er wirkt ein wenig unausgereift. Stil und Ausdruck gefielen mir jedoch sehr gut. Trotz der Thematik wird die Geschichte nie schlüpfrig, nie wird man als Leserin in die Rolle des Voyeurs gedrängt. Adèle wohnt mit Mann und Kind in Paris. Nur beim Sex mit Fremden fühlt sie sich frei & selbstbestimmt. Sie lügt und betrügt zwanghaft, um ihr Ziel zu erreichen.



Ihr Mann ist „stolz auf ihre Unabhängigkeit“, denn Adèle arbeitet bei einer Zeitung, ihr Job ödet sie jedoch an. Am liebsten wäre sie eigentlich eine reiche Gattin, gerne würde sie die Tage vertrödeln. Revolutionär die Aussage, dass eine Frau die Erfüllung nicht im Beruf findet, geradezu ein Tabubruch. Die Protagonistin liebt ihren Sohn. Trotzdem empfindet sie eine große Leere. Ihr Mann liebt sie mehr, als sie ihn liebt, aber er ermöglichte ihr, dem Mädchen aus einfachen Verhältnissen, den Aufstieg in die französische Upper Class. Da liegt der Hase im Pfeffer: Adèle droht „all das zu verlieren“, insgeheim will sie das vielleicht? Die Reichen nehmen zwar gern die Dienste eines Kindermädchens „aus Somalia“ in Anspruch, wundern sich aber, dass dieses Kindermädchen „den Ramadan einhält“, als sei es kein Mensch. Die Protagonistin durchschaut die Heuchelei.

Der Grund für das Verhalten der Heldin liegt u.a. in ihrer Kindheit. Ihre Eltern verband eine Art Hassliebe, ihr aus dem Maghreb stammender Vater warf seiner französischen Frau oft vor, ihn seiner Wurzeln beraubt zu haben. Zu keinem Elternteil hatte die Protagonistin ein enges Verhältnis, bei des Vaters Tod erinnert sie sich an dessen Schamhaftigkeit.

Als Adèle erwachsen wird, merkt sie, dass ihr Körper ihr Kapital ist. Sie definiert sich über das Begehren.

Sie will Leidenschaft. Als ihr Ehemann ihr eine „Altweiberbrosche“ schenkt, hat sie das Gefühl zu ersticken. Ihr Mann will auf’s Land, raus aus der Hauptstadt, erst recht, als er den Betrug seiner Frau bemerkt. Er ordnet das Ganze unter „Sexsucht“ ein, das Landleben soll seine Frau „heilen“. Er vergleicht jede andere Frau mit seiner Frau, die ihm stets begehrenswert erschien. Diese will ihr Kind nicht verlassen, ordnet sich unter, ihr Mann, der auch mal eine Affäre hatte, hält an der Ehe fest. Doch dies ist nicht das Ende …

„All das zu verlieren“ ist ein starker Roman. Bei der Lektüre war ich jedoch etwas hin – und hergerissen. Einerseits war ich genervt: Die Protagonistin hat alles, wirklich alles, ein gesundes Kind, sie ist finanziell abgesichert, sie sieht gut aus. Doch das reicht ihr nicht? Auch ihre beste Freundin, die vielleicht heimlich in den gehörnten Ehemann verliebt ist, deutet dies an.

Andererseits dachte ich, dass Slimani gut herausarbeitet, dass Frauen in westlichen, scheinbar aufgeklärten Gesellschaften so frei auch nicht sind. Ökonomische Abhängigkeiten, gesellschaftliche Erwartungen engen sie ein, besonders, wenn es um die weibliche Sexualität geht.